Irgendwer, irgendwo

„Und? Wie war der Abend?“, fragte Roger.
Sebastian ließ sich bewusst Zeit, um seinen Freund auf die Folter zu spannen, kostete den Moment aus. Schließlich antwortete er: „Es war großartig. Gute Musik. Feines Essen. Anregende Gespräche“
Roger seufzte wehmütig auf. „Wenn ich nur diesen Platz ergattern könnte. Seit Jahren versuche ich es nun. Vergeblich.“
„Ich hatte Glück.“ Sebastian setzte ein bescheidenes Lächeln auf.
„Und weiter?“, hakte Roger nach. „Was war genau? Was habt ihr gemacht? Wie war das Essen? Wie ist es überhaupt, wenn man tatsächlich isst?“
Seine Stimme überschlug sich regelrecht in seiner Aufregung, sodass seine Fragen wie eine schroffe Aufforderung klangen.
Sebastian indessen wollte es vermeiden, Euphorie und damit eine Hoffnung zu wecken, die sich nie erfüllen würde. Und überhaupt: Wie sollte man etwas beschreiben, zu dem der Gegenüber keinen Vergleich hatte? Das war ein ebenso vergebliches Unterfangen, wie wenn man einem von Geburt an Blinden eine Farbe erklären wollte.
„Ich kann es nicht beschreiben, man muss es erleben“, sagte er letztendlich kurz und knapp. „Es war halt eine Erfahrung.“
„Mehr fällt dir dazu nicht ein? Sag schon.“
„Es wäre unfair, zu sehr zu schwärmen. Lass es gut sein.“
„Ok.“ Rogers Enttäuschung war unüberhörbar. Aber es war besser so.
„Aber wie war es, sich in einem echten Körper zu befinden aus Fleisch. Fühlte es sich anders an?“
„Lass es einfach gut sein“, mahnte Sebastian erneut. „Es war anders, aber ich kann es nicht beschreiben.“
„Ich hoffe so sehr, dass ich auch das Glück habe“. Sebastian ahnte schon, dass sein Freund sich einen Zuspruch der Zuversicht erwartete, aber dies konnte er nicht mit sich vereinbaren. „Es gibt so viele andere schöne Dinge im Leben“, sprach er im aufklärerischen Ton. „So viele Androidenkörper, mit denen du wundervolle Erfahrungen machen kannst. Erfahrungen, die realistischer sind. Nutze lieber diese Optionen, als dass du einem Traum hinterherjagst. Ein Traum, der ohnehin nur von kurzer Dauer ist.“
„Ich habe doch schon fast alles durch. Ich war arm und reich. Mann und Frau. Habe mit allen Geschlechtern geschlafen und so viele Menschen, fröhlich und traurig, kennengelernt. Die einzige Erfahrung, die mir noch fehlt, ist die in einem Körper aus Fleisch und Blut.“ Während er dies sagte, entflammte in Roger neue Sehnsucht. Nur einmal das Bewusstsein eines der letzten verbliebenen analogen Menschen zu übernehmen, das war sein Traum. Sebastian meinte es offenkundig gut mit ihm, wenn er dieses Feuer nicht noch weiter anheizen wollte, aber das Verlangen war zu groß, als dass es sich mit beschwichtigen Worten unterdrücken lassen könnte. Da er ohnehin keine weiteren Informationen herauskitzeln konnte, ließ er es jedoch gut sein.
„Ich freue mich für dich“, sagte Roger halb aufrichtig in Mitfreude, halb bestürzt. „Aber entschuldige mich nun.“
„Lass dich bloß nicht von Begierde zerfressen“, hörte Roger noch, bevor er sich ausloggte.
Im System herrschte reger Betrieb. Bewusstseinsplätze wurden frei, andere belegt. Die Zahlen änderten sich erratisch wie die der früheren Börsenkurse, die die Menschen in Atem hielten. Nun ging es nicht um Aktienwerte, sondern darum, wo auf der Welt welcher Androidenkörper freiwurde. Die Auswahl war groß und Roger hatte noch etwas Aktionszeit übrig, bevor sein Bewusstsein die verordnete Ruhepause von 73 Stunden einlegen musste. Die Limitierung wurde eingeführt, um den Andrang auf die verfügbaren Androiden etwas zu reduzieren. Für gewöhnlich war es auch kein Problem mehr, einen Platz zu ergattern. Ganz anders als eine Teilnahme an der „Human Flesh Convention“, die nur wenigen beschieden war. 1000 menschliche Körper. 1000 Organismen, in die sich ein Bewusstsein per Chip implantieren lassen konnte. Und davon gab es 50 Körper, die für die allgemeine Nutzung freigegeben wurden und deren Verwendung durch das Zufallsprinzip verlost wurde. Die anderen 950 setzten sich aus dem Expertenrat, der Forschung und der operativen technischen Umsetzung von Neuerungen zusammen. Es war eine Notwendigkeit, um das System aufrecht zu erhalten, das so viele Probleme gelöst hatte. Dazu kam, dass die Ingenieure weltweit unterwegs waren, um defekte Androiden zu reparieren oder auszutauschen. Es war ihre Bürde – so nannten sie es zumindest – diese enervierende Aufgabe zu übernehmen, damit die neue verbesserte Weltordnung bestehen konnte. Außerdem war es noch immer erforderlich, neue Menschen durch den Geschlechtsakt zu reproduzieren, um weitere Gehirnvorlagen für den Scan zu erzeugen. Alle paar Jahre kam ein neues Bewusstsein ins System hinzu. Andere wurden entnommen. Der Tod existierte also weiter, selbst in dieser Utopie. Die Bewusstseinsströme der Menschen, alle vereint im gewaltigsten Computer, der je erschaffen wurde, fähig, das menschliche Gehirn bis ins Detail zu kopieren. Jeder war nun überall und konnte jeden Ort erreichen und doch fielen all die Probleme weg, die durch das wandelnde Fleisch entstanden waren. Kein Hunger mehr, keine unnötigen Flächen für Nahrungsanbau, keine Umweltverschmutzungen durch Reisen, keine Konflikte durch Ressourcenknappheit und vor allem keine Überbelastung des Planeten mehr durch eine zu hohe Zahl an Menschen. Die Anzahl der Androiden war strikt begrenzt.
Jeder konnte alle verfügbaren Identitäten annehmen. Jedes Alter, jedes Geschlecht, jede Ethnie stand zur Wahl. Sogar der Login in Tierandroiden war eine Option – schwimmen als Hai im Meer und als Vogel voller Anmut von den Wolken herabblicken. Alle Abgrenzungen, Unterschiede und künstlichen sowie natürlichen Normen wurden außer Kraft gesetzt. Alles, was es dafür bedurfte, war es, die Menschheit als biologische Lebensform zu beseitigen und zu digitalisieren. Nun waren sie alle wie eine lebende Bibliothek, in der die Geschichten aus den Büchern heraus projiziert wurden auf eine Schaubühne zur Visualisierung.
Roger durchforstete die Liste freier Bewusstseinsplätze: Ägypten, Hawaii, Japan: Es zog ihn einmal mehr in exotische Gefilde. Japan war sein Favorit: die Architektur, Kultur und Sprache. Er konnte sich zudem vorstellen, dass das Essen köstlich war. Aber dazu konnte er nichts sagen. Nahrung wurde nur noch in minimalem Umfang zubereitet für den Expertenrat. Androiden brauchten keine Nahrung. Es gab keinen Geschmack mehr, aber die Musik, visuelle Reize und andere Zerstreuungen. Vielleicht würde er den Mount Fuji hinaufsteigen. Roger mochte die Berge. Nichts konnte ihn mehr aufmuntern, als der Ausblick vom Gipfel bei Morgengrauen, wenn das Land unter ihm im satten Rot der erwachenden Sonne getränkt wurde. Zu seiner Enttäuschung gab es allerdings keinen freien Platz in der Nähe des Berges, dafür allerdings in den Alpen. Doch die kannte er mittlerweile auswendig. Wie sah es in den Rocky Mountains aus? Tatsächlich ergab sich eine Login-Möglichkeit, die Roger sofort beanspruchte.
Im nächsten Moment eröffnet sich vor seinen Augen der Blick auf einen türkisblauen, glänzenden See, der unter dem wolkenlosen Himmel so klar war, dass sich die dahinter erhebenden Bergmassive in allen Details darin spiegelten. Am westlichen Ufer des Gewässers erblickte er zwei Wanderer. Es lag eine beruhigende Stille über dem Tal. Sein Blick fiel auf den Wald, der sich zwischen See und Berg ausbreitete. Er fragte sich, wie viele echte Tiere er noch beheimatete. Bei dem Gedanken fiel ihm ein, dass er noch nicht in die Rolle eines Bären geschlüpft war. Es hätte sicherlich seinen Reiz, die Gegend aus dieser Sicht zu erkunden.
Roger schlenderte entgegen der Richtung, aus der die beiden anderen kamen, am Ufer entlang, da er das Idyll für sich alleine genießen wollte.
So viel Schönheit um ihn herum, so viel Natürlichkeit. Doch konnte er diese Impressionen wirklich in der Art erfassen, wie es geboten war? Konnte er ihre Schönheit schätzen? Die digitale Gesellschaft war eine großartige Idee, die so viele Vorteile mit sich brachte. Zumindest dachte er lange so. Nie hatte Roger das System hinterfragt. Nie hatte er Zweifel daran, dass sie der logische nächste Schritt war zur Vernetzung der Menschen und zur Optimierung des Zusammenlebens. Erst seit er erfahren hatte, dass einer seiner engsten Freunde das große Privileg des Fleisches genießen sollte, begann er damit, sich immer wieder die Frage zu stellen, ob er überhaupt darum wusste, wie es war, die Welt in allen ihren Facetten zu erleben. Offen wollte er seinen Argwohn nicht aussprechen, um keine Sanktionen zu erfahren. Aber wie könnte er die natürliche Welt in ihrer Gänze erfassen, wenn er selbst Teil von etwas Künstlichem war? Roger gehörte zu jenen Menschen, die den Transformationsprozess von Beginn an erlebt hatte. Als Fleisch viele Jahre gelebt, wurde sein Gehirn im Erwachsenenalter gescannt und in das System eingespeist, während der Organismus entsorgt wurde. Sebastian dagegen entstammte der Folgegeneration, deren Bewusstsein bereits direkt nach der Geburt in den Computer eingespeist wurde. Niemand jedoch erinnerte sich daran, wie es war, mit Organen, Blut und Knochen zu leben. Die Erinnerung daran wurde isoliert und gelöscht. Aber warum gewährten sie dann manchen das Recht, diese Erinnerungen wieder zu erlangen? Barg dieses Vorgehen nicht die Gefahr, eine unbändige Lust auf etwas zu wecken, das sich die Menschen womöglich mit Gewalt holen würden? Was, wenn die Massen aufbegehrten und kollektiv das Recht auf einen organischen Körper einforderten? Sebastian konnte sich mit anderen, die sein Glück teilten, zusammenschließen, um die Leute zu mobilisieren, anstatt sie mit vagen Worthülsen zu vertrösten. Vielleicht hatte er eine Erklärung darauf, welchen Zweck dieses Verfahren diente. Roger musste ihn fragen. Allerdings erst, wenn seine Nutzungszeit wieder aufgeladen war.
Drei Tage später suchte Roger seinen Freund im System unter seiner ID auf und fand ihn in einem Berliner Club in Gestalt einer jungen Frau. Inmitten berstender Lautsprecher und epileptisch flackerndem Neonlicht tanze er ausgelassen mit zwei Robokörpern, deren Äußeres nach Vorbild von dicken Herren im hohen Alter modelliert wurde. Roger nahm Sebastian zur Seite und die beiden gingen dorthin, wo die Musik leiser war.
„Sag mir jetzt, wie es war“, forderte Roger.
„Jetzt fängst du wieder damit an. Ich habe doch gesagt, es ist ok.“
„Du sagst mir nicht die ganze Wahrheit. Bitte. Du bist mein Freund. Ich muss es wissen. Also sei ehrlich zu mir. Du verbirgst etwas, ich sehe es dir doch an.“
„Also gut“, seufzte Sebastian gequält, nachdem in ihm für Sekunden offenkundig ein innerer Krieg tobte. „Ich wollte nicht so offen darüber reden, weil ich es erst selbst verarbeiten musste. Ich dachte, du hörst ohnehin von selbst auf. Aber in einem genuin menschlichen Körper zu leben ist die Hölle. Klar. Man genießt Essen und spürt den Herzschlag. Aber dieser Schlag wie ist ein Dolchstich. Man hat Schmerzen im Sekundentakt. Der Körper ist gebrechlich und kratzt. Das Blut fließt wie heiße Lava durch die Venen. Jeder Moment ist eine Marter. Und weißt du was: Ich beneide den Expertenrat nicht darum, dass sie diese Fron auf sich nehmen, um uns dieses bessere Leben zu bieten. Aber es ist gut, dass sie das Event verlosen, sodass das Wissen darüber weitergetragen wird, was wir hinter uns gelassen haben. Ich hätte damit offener sein sollen und ich werde es auch groß verkünden. Es gibt keinen Grund für die Rückkehr zur organischen Gesellschaft. Das Fleisch ist Qual.“
Roger musste zunächst verarbeiten, was er da hörte. Hatten die Menschen früher wirklich unter solchen Martyrien gelebt? Warum sollte die Natur sich so etwas ausdenken? Anderseits, was ist wenn auch dies nur künstlich erschaffen wurde?
„Aber sagt mal“, erwiderte er zögerlich, sich der Gefahr bewusst, dass er eine rote Linie überschritt. „Sie konnten uns die Erinnerungen an das frühere Leben nehmen. Was hält sie davon ab, uns falsche Erinnerungen einzupflanzen, wenn wir an der Convention teilnehmen? Was wenn sie lügen?“
Als hätten sich alle Schaltkreise überlastet und zum Absturz bei ihm geführt, fraß sich der Schock in das Gesicht von Sebastians gewählter Form. „Ist dir klar, was du da sagst? Das ist…“
Niemand in der Umgebung nahm Notiz von den beiden Androiden, die von einer Sekunde auf die andere stillstanden. Nur für kurze Zeit, bevor sie jeweils von einem anderen Bewusstsein übernommen wurden.
Irgendwo auf der Welt sprach ein Techniker durch sein Headset: „Melde zum Protokoll. Aufrührerische Reden wurden unterbunden. Bewusstsein X1346 und T2253 wurden permanent gelöscht. Neue Scans hinzufügen.“

Ein Kommentar zu „Irgendwer, irgendwo

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  1. Sie müssen nur den Nippel durch die Lasche zieh’n,
    und mit der kleinen Kurbel ganz nach oben dreh’n;
    da erscheint sofort ein Pfeil,
    und da drücken Sie dann drauf,
    und schon geht der Robokörper frisch auf!

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