Verlorene im Meer der Bäume

„Hey. Aufwachen“, rief es aus der Ferne her. Ich suchte die Quelle des Rufes und starrte ins Leere. Vergeblich. Also tat ich ihn als Spinnerei ab. Erst als ich ein Klopfen auf meiner Schulter verspürte, erkannte ich, dass es eigentlich kein Ruf war, sondern vielmehr ein Flüstern. Allmählich wurde mir klar, dass ich meine Augen bereits offen hatte. Mit ihnen nahm mein Verstand seinen Dienst auf und begleitete mich aus dem dämmrigen Übergangszustand zwischen Schlaf und Wachheit. Ich vernahm Richards Stimme und verspürte das Brennen in meinen Augen durch das Licht der Nachttischleuchte. Ich brummte wie ein Dachs, den man in seiner Winterruhe gestört hatte und hob meine Decke wie einen Schutzschirm vor der Helligkeit an.
Ich musste wohl einen belustigenden Anblick abgeben, wie ich dem Kichern hinter mir entnahm. „Oh, ist da noch jemand müde“, folgte es spöttisch.
„Ist es denn schon so weit?“, grummelte ich unter meinem Kokon aus Baumwolle und Leinen hervor.
„Und ob“, gab mir meine Begleitung zur Antwort.
„Bin noch so müde.“
„Vergiss nicht. Du warst einverstanden.“
Da hatte er natürlich Recht.
„Aber wir können auch spontan sein und das Ganze lassen.“
Das stimmte ebenso. Allerdings widerstrebte es mir, Vorhaben abzusagen. Verärgert war ich nur, weil ich mich kurz zuvor mittendrin in einem schönen Traum befand. Zwar konnte ich mich nicht mehr daran erinnern – in der Sekunde, als ich aus ihm herausgerissen wurde, war er schon in meinem Unterbewusstsein verschwunden. Jedoch wusste ich, dass ich mich dabei wohl gefühlt habe.
„Nein, wir ziehen das durch“, nuschelte ich. Danach gab ich mir einen Ruck und schälte mich aus meinem Bett heraus. Eigentlich war ich früh genug ins Bett gegangen, aber 2 Uhr morgens war nun einmal 2 Uhr morgens. Fasziniert und gleichfalls benommen beobachte ich, mit welcher Filigranität Richard durch unser Zimmer huschte und seine Sachen packte. Wie schaffte er es, zu dieser Zeit so munter zu sein? Ich schüttelte ungläubig den Kopf und hievte mich auf.
„Bleibt Zeit für ein Kaffee?“, frage ich, was mein Freund bejahte. Der Instant Kaffee, den ich mir aufgoss, war viel zu säuerlich, erfüllte allerdings seinen Zweck als Aufputschmittel. Weitere Minuten vergingen, in denen sich meine Müdigkeit einigermaßen verflüchtigte. Richard hatte sich bereits vollständig angezogen und alles verpackt. Nun saß er auf dem Dreibeiner in unserem Hotelzimmer und war von seinem Handy beansprucht. Irgendwas vom Wetter murmelte er, was ich aber nicht genau verstand, da ich schon über die Schwelle zum Badezimmer war. Dort zog ich mich eilig um und putzte meine Zähne rudimentär. Zurück im Zimmer füllte ich meinen Rucksack.
„Sieht aus, als könnte das Abenteuer losgehen“, sagte Richard. Ich stimmte schweigend zu und wir brachen auf.
Die kühle Nachtluft war Äther. Der Wind frischer Atem, der meine Lunge füllte. Ich mochte es, wie stoßartigen Brisen meine Wangen umschmeichelten und merkte bereits nach wenigen Schritten, wie sich die Energie in mir mehrte. Allerdings konnte das auch schlicht die Aufregung sein angesichts unseres Vorhabens. Seit einer Woche waren Richard und ich in Japan unterwegs. Die erste Zeit haben wir im Moloch von Tokyo verbracht. Dabei stand ein Tagesausflug auf den Mount Fuji an. Es war Richard, der während dieser Tour die Idee hervorbrachte: Eine Nachtwanderung durch den Aokigahara, dem Selbstmordwald. Einen herrlichen Blick auf den weitläufigen Wald gewannen wir während des Aufstiegs. Friedlich lag er zum Fuß des mächtigen Berges unter dem klaren Himmel. Ein Wald wie jeder andere von äußerem Schein und seine Seele doch belasten mit einer finsteren Historie. Über 50 Leichen hatte man allein im vergangenen Jahr dort aufgefunden.
Nach anfänglichem Argwohn meinerseits schaffte es meine Begleitung, meine Abenteuerlust zu wecken. Zu unserem Glück konnten wir spontan ein Zimmer in einem Hotel nahe eines Waldzugangs buchen.
Wir waren etwa 15 Minuten unterwegs, bis wir das Hotelareal sowie die zugehörige Parkanlage hinter uns ließen und an jenes Grenzgebiet gelangte, das den Übergang zu einem Reich markierte, an dem der Tod ein Dauergast war. Die nächtlichen Wolken waren in stetiger Bewegung und ließen den Schein des Mondes in ungleichmäßigem Rhythmus auf die stolz paradierenden Hemlock-Tannen fallen, die so dichtbeieinander standen, dass sie in der Dunkelheit wie eine geschlossene schwarze Wand wirkten. Selbst als wir unsere Stirnlampen aktivierten, blickten wir nur undurchdringlicher Finsternis entgegen. Damit war die Frage beantwortet, warum die Japaner vom Meer der Bäume sprachen.
Schließlich erreichten wir den Beginn des von uns angedachten Pfades, der sich am Ufer eines weiten Teiches eröffnete. In seiner Mitte erhob sich auf einer Insel umsäumt von japanischem Ahorn und Lavendelheiden, deren betörender Duft bis zum Ufer schwebte, ein Pavillon. Bereits am Nachmittag hatten wir diesem Ort einen Besuch abgestattet, um sicher zu gehen, wo wir starten mussten. Zu der Zeit hatte ich mir noch keine tiefergehenden Gedanken zu unserm Unterfangen gemacht.  Doch die Nacht hatte alles geändert. Am Tage von floralen Zauber beseelt, erschien dieser Ort nun wie das Portal zu einer fremden, unheimlichen Welt. Ich erschauderte, als ich sah, wie verzweifelt das Licht meiner Lampe gegen die Dunkelheit ankämpfte und gerade einmal dazu in der Lage war, mir die Sicht auf wenige Meter auf den unebenen Pfad zu gewähren.
„Du hast ja gelesen, was im Reiseführer stand“, frage ich bei meinem Reisepartner nach. „Der Wald ist ziemlich labyrinthartig aufgebaut. Darum binden Leute, die dort zum Sterben reingehen, Bändchen an die Äste, um den Weg wieder zurückzufinden, falls sie sich anders entscheiden.“
„Ich weiß.“
Irritiert von der Unbekümmertheit, mit der Richard mir antwortet kamen erste Zweifel an unserer Aktion auf. „Was ist, wenn wir vom Weg abkommen und nicht mehr zurückfinden?“, fragte ich. „Ich mein. Vielleicht, ist das doch nicht sicher.“
„Schiss?“
„Ich will nur sichergehen. Hab keine Lust, mich zu verlaufen.“
„Das werden wir nicht. Wir müssen ja nicht vom Weg fort. Lass uns einfach etwas dem Pfad folgen. Wir halten uns genau an den Plan. Wir gehen zu der Grabanlage, die nicht weit von hier ist und gehen dann wieder zurück. Siehe es mal nostalgisch. Wie die Nachtwanderung bei den Pfandfindern früher. So viel anders ist das nicht. Und du hast doch selbst gesagt, dass das eine nette Idee ist.“
Das hatte ich. Und ich wollte nicht der Spielverderber sein. Abschütteln konnte ich meine neuerliche Skepsis zwar nicht, doch ließ ich meinen Einwand beruhen. „Na dann“, sagte ich. „Auf geht’s. Aber wir bleiben streng auf dem Hauptweg.“
„Werden wir“, versprach mir Richard im beschwichtigend Ton, nur um gleich darauf zu ätzen: „Sollte sich jemand erhängt haben, sehen wir die Leiche bestimmt auch von dort.“
Idiot, dachte ich mir, ohne weitere Konfrontationen einzugehen.
Den Kegeln unserer Stirnleuchten folgend, die uns wie freundliche Irrlichter leiteten, schritten wir zwischen zwei Reihen eng umschlungenen Geästs hindurch. Es wirkte beinahe so, als würden sich die Bäume gegenseitig in die Arme fallen, um jene Seelen zu betrauern, die vor ihren Augen ihr Leben weggeben haben. Abgesehen von unseren dumpfen Schritten, unter denen hin und wieder ein Zweig knackte, legte sich eine nachdrückliche Stille über den Wald. Auch wenn ich es zunächst nicht für möglich gehalten hatte, pferchten sich die Baumkronen rasch noch dichter zusammen und schlossen das Mondlicht beinahe komplett aus.
„Pass lieber etwas auf“, mahnte mich Richard. „Jetzt wird es doch etwas holprig.“
Seine Warnung erfolgte zeitig, hinderte mich aber nicht daran, auf einem bemoosten Felsen beinahe aus der Balance zu geraten. Zum Glück hatte ich seit jeher schnelle Reflexe, sodass ich mit einer hurtigen Schwerpunktverlagerung einen Sturz abwenden konnte.
„Wow. Vorsicht“, rief Richard auf. „Ich will dich nicht aus dem Wald tragen.“
„Alles in Ordnung“, sagte ich abwinkend.
Immer tiefer tauchten wir in das Meer der Bäume hinein. Wie beim Sinken auf den Grund des Meeres das Licht immer schwächer wurde, erschien es mir auf unserem Weg ebenso, dass es immer dunkler und dunkler wurde.
„Weißt du“, sagte Richard. „In diesem Wald bringen sich nicht nur Menschen um. Es heißt, früher wäre dies ein Ort gewesen, zu dem verarmte Familien während Hungersnöten ihre Kinder oder pflegebedürftige Senioren gebracht haben, um sie zum Sterben zurückzulassen. Ubasute heißt diese Praxis. Die Geister der Opfer sollen noch immer hier herumspuken.“
„Danke, ich habe den Wikipedia-Artikel gelesen“, antwortete ich. „Aber da ist die Selbstmördergeschichte doch greifbarer.“
Nach einer kurzen Pause, in der ich meinen Blick schweifen ließ im vergeblichen Versuch, etwas hinter dem schwarzen Schleier zu erspähen, sprach ich weiter: „Aber das ist schon irgendwie faszinierend, dass ein Wald so eine Anziehung für Suizidanten ausübt. Und das nur, weil ein Autor seinen Protagonisten hier hat sich umbringen lassen.“
„Typischer Fall von Werther-Effekt. Viel zu viele Menschen sind einfach zu beeinflussen. Kommt immer wieder vor. Menschen sind idiotisch.“
Ich mochte nicht, wie abfällig Richard über das Thema sprach und erwiderte im moderat scharfen, aber merkbar tadelnden Tonfall: „Das hat nichts mit idiotisch zu tun.“
Richards betretenen Schweigen entnahm ich, dass er um die Dispektierlichkeit wusste, den er geäußert hatte. Mit den Gedanken an die tragischen Schicksale, für die der Aokigahara Zeuge war und mit einem Anklang von Melancholie im Herzen senkte ich meine Stimme und fuhr fort: „Ich mag und kann mir gar nicht vorstellen, was in jemandem vorgeht, der an diesen Punkt gelangt und dann dafür noch hier hergeht. Tief in der Nacht, so wie wir nun. Aber alleine und verlassen. Vielleicht auf ewig verschwindend, wenn sein Leib von Blättern und Ästen und im Winter von Schnee verdeckt wird. Vor allem würde mich interessieren, warum dieses Buch oder diese Bücher so einen Anreiz gegeben haben. Ich müsste einmal versuchen, sie zu lesen.“
„Ich verstehe dich. Das war jetzt auch leichtfertig von mir gesagt. Wahrscheinlich nur, weil ich mir das selbst nicht im Geringsten vorstellen kann.“
„Das kann wohl niemand“, murmelte ich vor mich hin.
„Wenn du die Bücher lesen willst, dann muss ich dich aber enttäuschen. Es gibt sie weder in Englisch noch im Deutschen.“
Ich stieß einen bedauernden Seufzer aus. Japanisch war einer der Sprachen, die ich noch erlernen wollte, doch hatte ich bislang noch keine Gelegenheit dazu ergriffen. Richard sprach die Sprache fließend. Er könnte eine gute Hilfe sein.
Suizid war nie ein angenehmes Thema, doch meine Gedanken im Gespräch mit Richard darauf zu lenken, lockerte mich. Mir in Erinnerung zu rufen, dass der schlechte Ruf des Waldes darauf basierte, dass normale Menschen mit ganz irdischen und bekannten Problemen nicht mehr zurechtkamen, nahm etwas von seiner schauerlichen Mystik. Im Lauf unserer Wanderung wurde ich gesprächiger. Wir ließen die Düsternis hinter uns und berieten uns darüber, wie wir die kommenden Tage unseres Urlaubs verbringen wollten.
Nach unseren Uhren waren wir etwa eine Stunde unterwegs, als wir den kleinen Schein wahrnahmen, der uns am Ende eines hölzernen Tunnels entgegenblickte.
„Vielleicht haben wir unser Ziel erreicht“, merkte Richard an. „War ja doch recht angenehm. Meinst du nicht?“
„Zurück müssen wir auch noch.“
Wir hatten die Lichtung noch nicht erreicht, als sich die Silhouetten der Gräber bereits dort abzeichneten, wo fahles Licht mit Fingerspitzen die Erde berührte. Die ganze Pracht der Anlage offenbarte sich jedoch erst, nachdem wir die brüchige Steintreppe hinabmanövrierten. Von verwildertem Gras umsäumt, von dem aus sich trotz der Trockenheit eine gewisse kräuterige Frische in der Luft ausbreitete, nahm die Ruhestätte den gesamten Platz ein. Das Arrangement der Grabsteine erfolgte soweit erkennbar keiner klaren Symmetrie. Vielmehr waren die Steine in ihrer Position chaotisch angeordnet, die Schriftzeichen sich jedoch der Anhöhe zuwendend, die sich links von uns erhob und auf deren Kopf ein Schrein die Krone bildete.
Erstaunt wanderte ich zwischen den von verwilderten Sträuchern umgebenen Totensteinen umher, während sich Richard in leichter Distanz zu mir umsah.
„Denkst du, hier sind wirklich diejenigen begraben, die sich im Wald umgebracht haben?“, rief ich ihm zu.
„Ich kann dir das nicht sagen. Vielleicht ist diese Grabstätte noch viel älter und hat nichts mit dieser Selbstmordgeschichte zu tun. Oder sie ist eher symbolisch errichtet, so wie wenn bei uns eine Erinnerung an ein Unfallopfer an der Straße aufgestellt wird.“
„Wenn dem wirklich so ist…“ Ich versuchte in etwa die Anzahl der Gräber abzuschätzen und schluckte bei dem Gedanken daran, dass es wohl mindestens 80 bis 100 Menschen sein mussten, die allein in diesem Waldstück ihr Leben gelassen hatten. „Es ist einfach so unwirklich.“
„Ja, das ist es“, stimmte Richard zu. „Aber das ist es was solche Orte ausmacht. Es sind nicht die Geistergeschichten, sondern das menschliche Verhalten an sich, das ihnen ihren Charakter verleiht, das uns manchmal so viel irrationaler erscheint, als jede Vorstellung vom Überirdischen. Einfach, weil es fassbar ist und dann doch wieder nicht. Es ist doch das, was wir nicht verstehen, aber doch im Bereich des Möglichen liegt, das uns wirklich verängstigt.“
Ich stimmte ihm im Geiste zu, antwortete jedoch nicht. Meine Aufmerksamkeit wandte sich einem Grabstein zu, der sich im Trauerheer der Quader durch seine Prismaform abhob, die am oberen Ende zu einem Pyramidion überging. Seine Oberfläche wirkte glatt, allerdings zeichneten sich bereits Spuren der Verwitterung sowie eine ungleichmäßige Bemoosung ab. Von beiden Seiten her haben sich die Gräser bereits über die drapierten Windlichter erhoben, die ihr letztes Licht vor langer Zeit ausgehaucht haben mussten. Ich fragte mich, ob überhaupt noch eine regelmäßige Pflege stattfand oder ob man den Friedhof sich selbst überließ, bis die Pflanzen letztendlich ihren rechtmäßigen Platz zurückeroberten und sich diesen Ort untertan machten. Verständnislos musterte ich den Stein, aus dessen Inschrift ich einzelne Hiragana und ein Kanji entziffern konnte, ohne in der Lage zu sein, sie zu einem sinnigen Kontext zusammenzuschließen. Richard hätte mir als Übersetzer dienlich sein können. Doch als ich sein Licht ein gutes Stück von mir entfernt und auf das mir entgegengesetzte Ende des Friedhofs zuwandern sah, verzichtete ich darauf, ihn herzurufen. Ich setzte meinen Weg fort und stampfte querfeldein durch das Gestrüpp, allerdings nur so weit, dass ich nicht ganz darin versank. Ein Schwenker zum Schrein verriet, dass der Wuchs dort noch intensiver war. Wenn bereits auf dieser Lichtung, die noch relativ einsehbar war, der Reigen aus Gräsern, Pflanzen und Sträuchern so ausgelassen war, dass er ohne Probleme einen Menschen verbergen konnte, war es kein Wunder, dass dort, wo der Wald tiefer und dichter war, so mancher Vermisster niemals gefunden wurde. Ich fragte mich, wie vielen Unglücklichen im Aokigahara nie eine würdevolle Bestattung zuteile wurde und deren zu Staub zerfallener Leib den Boden düngte. Ein Schauer überkam mich, als ich mir vorstellte, dass der nächste Leichnam nur wenige Meter von mir irgendwo unter Farn und Sperrstrauch verborgen lag, bereits dem Verfall anheimfallend, von Tieren verunstaltet. Dies war jedoch nichts im Vergleich zu dem Schrecken, der mich überkam, als etwas drei Meter von mir entfernt Knackte und raschelte. Wie durch einen elektrischen Schlag aufgepeitscht machte ich einen Satz zurück und ließ den Schein erratisch in der Richtung umherwandern, aus der das Geräusch kam. Im pulsierenden Takt arbeitend, fühlte ich, wie mein Herz Glut durch meine Venen pumpte. Es raste noch schneller, als die Äste der Rotkiefer unter grobschlächtigem Druck raschelnd nachgaben. Ein Tier? Ein Kragenbär sogar? Oder nur ein harmloses Reh?
Unbeholfen sammelte ich meine Stimme und gab einen halbwegs kraftvollen Aufschrei von mir, um den Waldstreuner zu vertreiben. Das war das einzige, was mir ad hoc einfiel. Die Anspannung, die meinen Körper verkrampfen ließ, war unerträglich. Hinter mir vernahm ich Richard, aber für das, was er sagte, hatte ich kein Gehör. Knacken. Noch eines. Ein dumpfes Auftreten, das mir ganz nah war. Der Schleier lichtete sich und in dem Moment bereitete ich mich bereits auf eine Attacke vor, ohne dass ich wusste, wie ich meine Glieder für die Abwehr oder Flucht unter Kontrolle bringen sollte. Doch es war nicht das Gesicht eines Bären oder eines anderen Wildtieres, das mir entgegenlugte. Zunächst redete ich mir ein, das Opfer einer Illusion zu sein, ein Schabernack, den meine eigene Fantasie mir spielte. Zum Glück reagierte die Vernunft in meinem Verstand schnell genug, um meinen panischen Impuls zu zähmen und das Vertrauen in meine Augen zu stärken. Ein schlaksiger Körper, der einem Kind gehörte, teilte das Geäst und wankte wie ein Gespenst aus dem Nichts auf mich zu. Das Gesicht, in das das zerzauste schwarze Haar hing, war verdreckt, die Kleidung verschlissen. Die Beine beängstigend dürr. Nach den ersten Momenten der Überraschung, in denen sich meine Kehle so sehr verengte, dass kein Wort ihr entwich, fasste ich mich. Absurderweise begann ich den Jungen, der nicht älter als 13 sein konnte, auf Deutsch zu fragen, was er alleine hier draußen machte. Ich korrigierte mich und wiederholte die Frage auf Englisch. Sie wurde nicht beantwortet. Der Junge schien mich nicht einmal zu registrieren. Apathisch, beinahe schlafwandlerisch torkelte er an mir vorbei und murmelte irgendetwas Japanisches in die Leere. Hilflos angesichts des verstörenden Vorgangs rief ich Richard herüber. Auf leichtem Abstand folgte ich dem Kind, das unbeirrt seinen Weg fortsetzte. Seine Beine wackelten bei jedem Schritt. Die Kraftlosigkeit war ihm anzusehen. Wer wusste schon, wie lange der Kleine unterwegs war und wie lange er sich in dem Wald aufhielt. Tage? Wochen? Ein paar Stunden konnten es gemäß seines verwahrlosten Antlitz nicht sein.
„Was ist denn los?“ Schallte Richards Stimme zu mir. „Ach du scheiße“, entglitt es ihm, als er den Jungen sah. „Was ist mit ihm?“
„Er kam aus dem Gebüsch. Was sollen wir machen? Er reagiert auf mich nicht. Versuch, du auf Japanisch mit ihm zu sprechen. Aber pass auf. Er sieht ziemlich verwirrt aus.“
„Ich mach das schon.“ Richard sprach den Jungen von der Seite an. Diese wisperte etwas. Richards irritiertes Gesichtsausdruck und seine Geste verrieten, dass er sich auf das Gesagte keinen Reim machen konnte. Erneut redete er dem Kind zu. Sein Ton klang warm und verständnisvoll.
„Was sagt er?“, fragte ich.
„Es ergibt keinen Sinn. Einzelne zusammenhanglose Worte. Ich befürchte, dass er sich in einer Art Delirium befindet. Wir müssen ihn hier rausschaffen.“
Die letzte Hoffnung, die Aufmerksamkeit des Kindes zu erlangen, setzte Richard auf eine streichelnde Bewegung über seine Schulter. Dies gelang ihm auch, doch auf eine Art, wie wir sie nicht erhofft hatten. Das Kind sah uns mit trübem, leblosem Blick an. Kurz darauf durchbrach ein Urschrei die Stille des Waldes. Das unheimlichste dabei war, wie ausdruckslos die Gesichtszüge des Jünglings waren, der mehr wie eine lärmende Puppe wirkte denn als Mensch. In der Erwartung, dass wir uns am Ende noch gegen das hysterische Kind erwehren mussten wichen Richard und ich simultan zurück. Das Kreischen verstummte. Die kraftvolle Entleerung der Kehle musste wie ein Befreiungsschlag gewirkt haben, denn schlagartig setzte der Junge zum Spurt an und seine Beine waren nicht mehr so zittrig wie zuvor. Richard schrie ihm noch ein paar japanische Worte hinterher, doch da war er wieder mit der Nach verschmolzen und hinfort.
„Du hast ihn verjagt“, warf ich Richard vor, auch wenn mir klar war, dass er nichts dafür konnte. Wir waren beide von der Situation überfordert. Er ignorierte meinen Tadel und atmetet schwer durch. Ich wusste natürlich, dass der Kleine nicht mehr lange so desillusioniert umherwandeln konnte. Doch war mir ebenso klar, dass es ein fataler Fehler wäre, ihm nun hinterherzurennen in die Gefahr, als Gefangene des Waldes zu enden. Richard sah es glücklicherweise wie ich. So traten wir unmittelbar den Rückweg an mit dem Vorhaben, im Hotel die Polizei zu verständigen. Während des Marschs zurück blieben wir still. Was hätten wir uns nach diesem Erlebnis unbeschwert erzählen sollen? Und was mich betraf: Ein merkwürdiges Gefühl saß mir im Nacken. Als würde uns jemand beobachten. Regelmäßig blickte ich mich um. Jeden Moment erwartete ich das Kind erneut das Dickicht zu brechen. Nichts geschah. Es blieb beim paranoiden Unbehagen, das mich bis zum Schluss begleitete. Wüsste ich nicht, wie irrsinnig dies wäre, wäre ich für einen Augenblick davon überzeugt gewesen, dass mit einer flüchtigen Böe ein menschliches Flüstern herbeigetragen wurde – ein schleierhaftes Klagen, das im Geheul des Windes unterging.
Schließlich erreichten wir unseren Startpunk. Unsere durch die Aufregung erhitzten Körper waren ungewöhnlich verschwitzt. Ein letztes Mal wandte ich mich dem Wald zu, noch immer mit dem Gefühl, dass mich jemand aus der Schwärze heraus anstarrte. Ich wusste, dass ich diesen Ort nie wieder betreten wollte. Einmal mehr hüllte ich mich in Betrübnis bei den Gedanken an all diejenigen, die diese Welt zum Sterben aufsuchten oder just in diesem Moment verzweifelt versuchten, ihren Weg wieder hinaus zu erkämpfen, dorthin, wo sie Geborgenheit fanden.
Ein paar Tage später, ich hatte unser nächtliches Abenteuer noch nicht verdaut, kam Richard in unser Zimmer. Natürlich hatten wir der Polizei von dem Vorfall berichtet. In mir brannte es seitdem, ob es Neuigkeiten gab. Die hatte Richard, dafür hatte bei japanischen Bekannten in Tokio angefragt. Was er mir erzählte, war beklemmend und hatte sich nachdrücklich in mir eingebrannt. In der Region ging ein Trend um unter einer speziellen Gruppierung von Hikikomori, die sich mit Gleichgesinnten im Aokigahara trafen und ihre Isolation mit einem letzten Akt sozialer Interaktion beendeten – dem gemeinschaftlichen Suizid. Immer wieder hatte man tote und lebende Kinder im Wald ausfindig gemacht. Manchmal gingen Familienmitglieder oder Freunde zur Suche hinein und hatten sich dann selbst verlaufen. Manche verunglückten bei ihrem Unterfangen.
Bei der jetzigen Suchaktion wurde ein Mädchen gerettet. Ebenso hatte man neue Leichen aufgestöbert. Richard zeigte mir einen Online-Artikel. Er berichtete von einem Jungen namens Soma. Das Artikelbild zeigte das geheimnisvolle Kind, dem wir begegnet sind. Vermisst war diese Soma seit einem Jahr. Unter den Entdeckten befand er sich nicht.
Aber konnte ein normales Kind solange in der Wildnis überleben und unauffindbar bleiben? Oder war…nein, die Alternative wäre zu absurd. So oder so war ich davon überzeugt, dass es uns schrecklich ergangen wäre, wären wir dem Jungen nachgelaufen.

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