Egoprobe

„Ach liebste Anja. Schweige mich doch nicht so an. Ich weiß, ich habe dir Unrecht getan. Ich weiß, dass ich viel zu weit gegangen bin. Schlimme Worte sind gefallen. Flüche, die ich nie hätte mit Gift und Galle herausspucken hätte sollen, die sich als brodelndes Gebräu tief in mir ansammelten, wo sich meine Gedärme schmerzhaft verknoteten. Aber du musst schon verstehen, dass das, was du mir mit toxischer Zunge in meinen Geist eingeflößt hast, der Akzelerator dafür war, dass mir dieses Gemisch bis in die Kehle und darüber hinaus schoss. Sicherlich entschuldigt dies nicht mein Verhalten, war ich doch Kraft meines sonst so besonnenen Geistes von Haus aus in Besitz eines Gegenmittels für meine emotionale Unbeherrschtheit. Eigentlich. Und doch habe ich dich verletzt und das mit einer Leichtfertigkeit, mit der andere Menschen ein paar Cents einem Straßenmusiker zuwerfen. Wie sehr ich mich dafür schäme, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Das Messer, das ich an dich angesetzt habe, frisst sich nun gierig in meinen Leib und meine Seele. Durch die offene Wunde fließt der Saft heraus, der mich so sehr erhitzt hatte. Ersetzt wird er durch einen anderen Schmerz, noch eindringlicher als zuvor. Eine Qual tauscht die andere aus. Ja! Ich quäle mich. Siehst du das denn nicht? Ach sicherlich siehst du, wie ich mich plage. Ich selbst kann durch verkrampfte Muskeln spüren, wie sich mein Gesicht anspannt. Aber warum sagst du nichts? Jetzt bin ich so lange bei dir, versuche dir gut zuzureden, versuche, für meine Verfehlung um Entschuldigung zu bitten, doch du strafst mich noch immer mit Missachtung. Wie viel Zeit soll noch vergehen, bis du das Gespräch mit mir suchst? Nun denn, so leicht lasse ich mich jedoch nicht abfertigen, nachdem ich mein Gemüt wieder unter Kontrolle bekam. Ich sehen mich danach, unseren Konflikt beizulegen um unsere Liebe willen. Mir ist klar, dass wir trotz aller Streitigkeiten noch nie einen Zwist hatten, der solch ein Ausmaß annahm, wie am heutigen Tag. Aber muss die Intensität eines Streites wirklich eine adäquat lange Bedenkzeit bedeuten, bis beide Parteien zur Beilegung dieser Unannehmlichkeit bereit sind? Wie viel Zeit muss vergehen? Sag schon? Sag irgendein Wort? Und erwiderst du nur mit einem Brummen, Murren, Seufzten oder Schnauben. Ein Laut wäre mir schon genug. Selbst wenn du mir befehlen würdest, dass ich gehen sollte, allein das wäre Balsam für meinen aufgebrachten Geist. Hauptsache du redest wieder mit mir.“
„Stopp. Halt.“ Nadine stand auf und schüttelte entnervt den Kopf. „Jetzt wo ich diesen Monolog direkt höre kann ich nicht einfach anders. Wie kann man so etwas verfassen?“
„Wo kommt das jetzt her?“. An Renés verdutztem Gesichtsausdruck erkannte Nadine, dass er diese Frage nicht nur als Floskel stellte.
„Ist das dein Ernst? Du merkst nicht, wie bescheuert das klingt? Wie aus einer anderen Zeit. Was meinst du dazu Erich? Ist dir beim Lesen Skripts nicht aufgefallen, wie hohl dein Text ist?“
Überwältigt von der Last, die seine Kollegin ihm aufbürdete, in dem sie ihn zur direkten Stellungnahme nötigte, fing Erich nervös zum Stottern an. Er konnte perfekt sprechen, zitieren und rezitieren, fabulieren und geschliffen akzentuieren – wenn es darum ging, eine Rolle zum Leben zu erwecken. Doch musste er sich in der Realität artikulieren, versagte seine Eloquenz regelmäßig und Nadines stechender Blick machte es nicht besser.
Nach ein paar „Ähs“ und „Najas“ nuschelte er etwas Unverständliches in einen unsichtbaren Vollbart und wandte sich verlegen von ihr ab. „Nun ja. Es ist der Text“, brachte er halbwegs, doch ohne klare Aussage hervor, um René nicht zu brüskieren. Als Regisseur gab er sich doch so viel Mühe und tat das Bestmögliche im Rahmen der Möglichkeiten, die an einem Amateur-Theater zur Verfügung standen. Zumindest entsprach dies Erichs Haltung. Nadine und er hatten dieses Thema schon oft besprochen. Immer wieder hatte er sich in eben jener defätistischen Haltung geübt. Wo sie sich nicht nur als Schauspielerin betrachtete, sondern sich als Muse, die ihren inspirativen Input mit in die Produktion fließen lassen wollte, hegte er nicht im geringsten diese Ambitionen. Er machte seinen Job ungeachtet der Qualität, für die er sich hergab. Nadine hasste diese Mentalität. Auch jetzt spürte sie, wie leidenschaftliche Glut, durch ihre Venen schoss – einerseits, weil Erich sie nicht unterstützte, anderseits der niederen Aspiration ihres Regisseurs.
„Ok“, schnaufte sie hervor und verdrehte angewidert die Augen. „Wenn du mich nicht unterstützen willst, dann nehme ich es jetzt selbst in die Hand, um Klartexte zu sprechen.“ Sie wandte sich an René, der sie ausdruckslos ansah, so als zog alles um ihn herum wie ein flüchtiger Luftzug an ihm vorbei.
„Du schreibst Texte, die sind furchtbar. Genau deswegen spielen wir immer nur vor 5 Leuten. Maximal. Du bist prätentiös und affektiert. Und das habe ich dir schon mehrmals gesagt, keine Ahnung, warum du dich jetzt wunderst, woher das jetzt kommt. Na ja, du hörst ja nie zu.“
„Wenn es prätentiös klingt, dann vielleicht, weil ihr es so spielt. Erich, ja. Du könntest ein bisschen realitätsnäher spielen. Und du Nadine, du betonst ja immer so schrill, mehr Burleske als Theater. Du solltest deine Tendenz zur Überdramatik nicht an meiner Person externalisieren.“
„Ich…ich mache was?“ Nadine kannte René schon lange und war doch stets aufs Neue darüber perplex, welche Resilienz er gegenüber der Realität aufbrachte. Sie hätte sich am liebsten die Haare enerviert ausgerissen, beließ es jedoch dabei, einen kräftigen Flügelschlag mit ihren Armen zu vollführen. Dabei stapfte sie aufgebracht im Kreis. „Sagt denn sonst keiner etwas dazu?“, rief sie ziellos in den Raum, in Erwartung, doch noch etwas Beistand zu finden. Die Requisiteure, Bühnenbilder und alle anderen Mitarbeiter – allesamt hobbymäßig tätig – hatten sich allerdings bereits verkrochen und Erich sah immer noch verschämt zu Boden.
„Das ist unglaublich.“
„Es ist nur ein gut gemeinter Ratschlag“, sagte René. „Vielleicht beherzigst du ihn.“
„Und wann beherzigst du mal etwas? Willst du immer auf der Stelle treten?“
„Es ist nur…“, klang Erichs Stimme in ihrem Ohr, leise und bröckelig. „Es ist nur ein Amateur-Theater. Wir machen das alle freiwillig. Aus Spaß.“
„Und das ist ein Grund, Blödsinn zu verzapfen?“ Hätte er doch nur geschwiegen, dachte Nadine sich.
„Was willst du eigentlich?“, fragte René, der sich in unveränderter künstlich-lässiger Pose in seinen verschlissenen Ledersessel lümmelte.
„Ich möchte, dass wir endlich mal aufrichtig darüber reden, wie es damit weitergehen soll. Mit dem Ganzen. Ich möchte, dass wir uns mal ehrlich hinterfragen, ob hier jeder noch dafür geeignet ist.“
„So wie du als Schauspielerin?“
„Oder du als Regisseur und Schreiber. Deine Texte sind oft einfach nicht gut.“
„Ich schreibe für ein spezielles Publikum.“
„So kann man sich das schönreden.“
„Vielleicht sollten wir mit den Proben weitermachen“, warf Erich ein, dessen Worte unvernommen gefroren in der Kälte, die zwischen seinen beiden Kollegen herrschte. Oder wir hören für heute auf, flüsterte er sich selbst zu.
„Weißt du Nadine. Begeisterte Schauspielerinnen, die unser Etablissement als kleine Übung nutzen möchten, gäbe es viele. Du bist nicht unersetzlich. Und du bist auch nicht so gut, wie du dich darstellst.“
Jetzt wollte er sie provozieren. Nadine erkannte das daran, dass René Beleidigungen aussprach, als würde er ihr die Uhrzeit nennen. Er wusste, genau, dass sie zu temperamentvoll war, als dass diese betonte Ruhe in solch einer Konfliktsituation nicht verärgern würde. Der Nadelstich entfaltete seine spürbare Wirkung. Nadine biss sich auf die Lippen, während ihre nervösen Finger damit beansprucht waren, in der Luft Klavier zu spielen. Hinter seiner stoischen Maske lachte René über ihren Anblick, dessen war sie sich sicher.
„Oh ja. Jetzt wieder andere in den Dreck ziehen!“, entfuhr es ihr mit spöttischem Jubel. „Jawohl, jawohl! So muss es sein!“
„Du diffamierst mich doch auch.“
„Ich habe schon so oft sachliche Kritik gegeben. Zu Texten, Handlung.“ Kurze Pause, in der sie fast schon hechelnd ausatmete. „Konstruktiv“, ätzte sie im nächsten Moment lautstark hervor. „Du ziehst andere immer nur herunter.“
„Ich habe dir genauso immer hilfreiche Tipps zum Schauspiel gegeben“, erwiderte René mit dem Charme eines Bürokraten. „Begründet und nachvollziehbar. Aber du hast dir auch nie etwas sagen lassen. Oder du wolltest es, aber hast es nicht besser hingekriegt.“
„Und wolltest dich nicht einmal weiterschulen und irgendwie darum kümmern, dass aus dem Theater irgendetwas wird.“
Damit war Renés Fassade vordergründiger Ruhe gebrochen. Es war in seinen sich verengenden Augen zu sehen, in seiner runzelnden Stirn und an dem nervösen Zucken seiner Fingerglieder. Nadine triumphierte darüber, ihn aus der Reserve gelockt zu haben. Sie hoffte darauf, dass er etwas Falsches sagte. Etwas, das ihr die Rechtfertigung gab, endlich das herauszulassen, was ihr solange bereits auf dem Herzen lag. Die schlichte Wahrheit, wie sie über ihn dachte. In einem eindringlichen Moment, in dem ihre Auseinandersetzung spürbar ihre Klimax erreichte, kreuzten sich ihre Blicke mit der Konzentration zweier Duellanten. Die Welt schrumpfte zusammen auf den Mikrokosmus ihrer Egos, die sich aufplusterten als wären sie prächtige Pfaue und doch nur zu belächeln waren wie Tauben, die stumpf den Boden nach Krümeln absuchten, um sich den Bauch vollzuschlagen. In diesem Fall waren es die Brocken reiner Selbstgefälligkeit, an denen sich die Kontrahenten sattfraßen. Das weitere Wortgefecht setzte sich stumm in ihrem Geiste fort, jedes Mienenspiel als persönlicher Angriff gedacht, bis die Anspannung kurz vor dem großen Riss stand.
„Du bist eine…“, setzte René schließlich an, brachte das letzte Wort jedoch nicht hervor. Simultan dazu formte Nadine fast lautlos mit ihren Lippen Ähnliches: „Du bist ein…“. Doch auch sie stockte. Bei allem enthusiastischen Zorn wagten beide nicht, diese letzte Hemmung einzureißen und all ihre freien Gedanken wüten zu lassen. Und doch schallte das Wort durch den Raum, dass Nadine und René krampfhaft versuchten, wieder ihre Kehle herunterzuschlucken.
„Versager!“
Es war Erichs krähende Stimme, die die Erlösung brachte. Sie war ein Messer, das die Fesseln zerschnitt, die die beiden Streithähne aneinanderband. Befreit von dieser Last wandten diese sich verdutzt ihrem Kollegen zu, der eine ungewohnt selbstbewusste Haltung einnahm und so rot war, als hätte er sich einen Sonnenbrand eingefangen.
„Ihr seid beide Versager!“, bekräftigte Erich. Er hätte den beiden am liebsten noch mehr in ihre dümmlich wütend-irritierten Gesichter geschleudert: Dass er es leid war, als einziger ihre Projekte professionell anzugehen. Dass er ihrer beider Launen überdrüssig war. Und dass er doch einfach nur Theater spielen und Menschen erfreuen wollte. Für einen Moment erfüllte ihn die pure Euphorie, nun, da er es endlich geschafft hatte, sich kundzutun nach Monaten des Duckmäusertums, in denen er beiseite stand und den ewigen Zankereien mit der Passivität eines Hörbuchhörers lauschte. Nun stand er im Rampenlicht, alle Augen auf den gerichtet, der alles in sich hineingefressen hatte, bis das Brodeln in ihm nicht mehr zu bändigen war und in Form einer grässlichen Beleidigung aus ihm heraussprudelte.
„Wie hast du uns genannt?“, zischte Nadine zuerst, nachdem sich der Moment der Überraschung gelegt hatte.
„Was erlaubst du dir eigentlich?“, stimmte René zähneknirschend mit ein.
„Ich…ich.“ Schon war er wieder hinfort, der Augenblick der Courage und Erich stand wie verloren im Wald den beiden lechzenden Wölfen gegenüber, die ihren Kampf abbrachen, um sich das Opfer zu greifen, das sie unterbrochen hatte.
„Ich habe das nicht so gemeint…ich meine. Ihr streitet jetzt so lange schon immer über die gleichen Themen und…“. Erichs zittrig hervorgetragener Versuch, sich zu erklären, war ohnehin ohne Kraft und ging vollends in Nadines Gekeife unter.
„Man sagt jemandem trotzdem nicht, dass er ein Versager ist. Was bildest du dir eigentlich ein?“
„Ja.“
„Aber ihr werft euch doch ständig indirekt vor, dass ihr Versager seid“, wollte sich Erich rechtfertigen. Er wollte doch nur eine gewisse Gleichheit herstellen. Doch stattdessen verharrte er stumm, als hätte ihn eine Stockstarre ergriffen unter deren Einfluss er die Kakophonie aus empörten Ausrufen, Beschimpfungen und verächtlichem Schnauben ertrug, die auf ihn einprasselte. Die Stimmen überschlugen sich bis hin an die Grenzen der Heiserkeit und waren bald mehr reine dissonante Tonfolgen denn akzentuierte Satzgebilde. Vielleicht hätte er eingestehen sollen, auch ein Versager zu sein. Womöglich hätte es sie besänftigt oder auch nicht. Letztendlich hatten sie ja alles nichts erreicht bislang. Und wenn er ehrlich zu sich war, dann musste er erkennen, dass er insgeheim doch mehr aus ihrem Schauspielprojekt machen wollte.
Erich hatte es gewagt, einem Missstand eine Bezeichnung zu geben. Was zwei sich über lange Zeit hinweg um die Ohren hauten in Form von Umschreibungen, Vorwürfen und Spötteleien, brachte er mit knapp auf den Punkt. Keine Täuschung durch umständliche Wortbekleidung, keim Umschweifen. Er sprach aus, wie es war. Sie waren Versager auf ihrem Gebiet. Sie hatten in all der Zeit nichts von ihren Ambitionen umsetzen können. Keine großen Vorführungen, kein euphorisch applaudierendes Publikum. Wie sollte man sie denn sonst nennen außer Versager? Sie hatten bei einem Unternehmen versagt. Das war die Realität. Doch dazu, diesen Umstand zu erklären, kam Erich nicht mehr. Am Ende des Tages war er kein Teil der Theatergruppe mehr. Andere verließen sie in den nächsten Tagen und Wochen freiwillig. Nun hatten Nadine und René genug Freiraum für eigenes privates Theater.


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