„Wisst ihr“, brummt James mit seiner unverkennbar rauchigen Stimme. „Wenn wir aus dieser verdammten Hölle raus sind, dann gönn ich mir den teuersten Whisky, den ich finden kann. Ganz egal, wie viel er kostet. Aber ich gönn in mir und ich werde feiern und ihn in einem Abend leeren. Und ich werde fressen, wie ich es noch nie in meinem Leben getan habe.“
„Sehr schön“, antwortet Henry bitter. „Du scheinst dir deiner Sache ja sicher zu sein.“
„Kann ja nicht jeder so ein negatives Arschloch wie du sein. Warum bist du so?“
„Warum? Vielleicht, weil wir im gottverdammten, gefrorenen Nirgendwo festsitzen, inmitten einer beschissenen Höhle und das jetzt seit drei Tagen. Außerdem hast du das jetzt schon ungefähr ein dutzend Mal gesagt, was du vorhast. Und ich sage noch einmal: Es interessiert mich einen Dreck. Und was macht dich so sicher, dass wir wieder zurückkommen?“
„Wir haben den Flugzeugabsturz überlebt. Ist das nicht eine Menge Glück? Wer so viel Glück hat, der kann noch mehr davon haben. Andere, die meisten, hatten dieses Glück nicht. Man wird uns finden. Sie suchen sicherlich schon nach uns.“
„Ob sie uns rechtzeitig finden?“
„Hör auf, so etwas zu sagen“, schimpft James. „Wenn du nicht aufhörst, so daherzureden, hau ich dir aufs Maul.“
„Versuchs doch.“
„Hört endlich beide auf.“ Matthew ist es, der die Stimme erhebt. „Euer Gezanke hilft uns auch nicht weiter.“ Er pausiert und flüstert: „Wir können nur abwarten.“
„Und was, wenn niemand kommt?“, fragt Henry grimmig. „Was, wenn man uns hier verrotten lässt?“
„Das wird nicht passieren.“
„Du kannst dir da so sicher sein?“
„Nein“, blafft Matthew. „Und ich will nicht mehr darüber reden…merkt ihr nicht, dass wir seit zwei Tagen das gleiche Gespräch führen? Wir können nichts machen. Immerhin haben wir noch Möglichkeiten, uns ein Feuer aufrecht zu erhalten. Das ist hier ein Luxus, über den wir uns erst mal freuen können. Und etwas Vorräte sind auch noch da. Wir müssen nicht so tun, als wäre dies eine schöne Situation. Wir müssen nicht nett zu einander sein, aber auf die Nerven gehen müssen wir uns auch nicht.“
Wie gerne möchte ich mich in das Gespräch einmischen, meinen Einwand darlegen. Sicherlich bin ich kein Pessimist, bin ich noch nie gewesen. Und zu gerne möchte ich Henry in diesem Moment ebenfalls zurechtweisen. Aber es geht nicht. Der Absturz hat mich schlimm erwischt. Meine Kollegen hatten mich aus dem Wrack gezogen und mit in diese Höhle geschleppt. Aber meine Verletzungen sind schlimm. Ein Metallteil durchbohrte mich direkt an der Hüfte. An das erinnere ich mich noch. Was aber im Einzelnen in den letzten zwei Tagen geschah, entzieht sich zum größten Teil meiner Erinnerung. Die drei anderen mussten mich wohl gepflegt haben oder so. Immer wieder wachte ich rudimentär auf, einzelne Fetzen von Impressionen kamen mir in den Sinn, doch war ich im Kopf zu vernebelt, um die einzelnen Teile zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Bis jetzt. Nun wache ich auf und kann alles sehen, alles hören und alles riechen. Ich kann die Szenerie, die sich abspielt, vollkommen wahrnehmen. Aber ich kann mich nicht bewegen und nichts sagen. Kein Muskel rührt sich, so sehr mein Geist meinen Körper zur Bewegung befehligen möchte. Nicht mal zu den drei anderen kann ich hinüberblicken. Ich bin dazu verdammt, auf die kalte, mit Stalaktiten bewehrte Felsdecke zu starren.
„Ich schau aber kurz mal, wie es Thomas geht.“
James kommt zu mir. Er beugt sich mit besorgtem Gesichtsausdruck über mich, starrt mir fest in die Augen. Ich möchte ihm etwas zusprechen, auf mich aufmerksam machen. Es geht einfach nicht.
„Er sieht ziemlich blass aus.“ James fasst mir auf die Brust. „Was zum …“ Er wirkt aufgewühlt und atmet schwer. „Thomas? Alles in Ordnung?“
„Ja, es ist alles gut“, möchte ich ihm sagen. Vergeblich.
„Was ist los?“
„Thomas rührt sich nicht. Sein Puls, sein Herzschlag…da ist nichts.“ James von Panik verzerrtes Gesicht ist eine Folter. Ich ertrage es nicht. Warum verfällt er in Panik? Die beiden anderen kommen hinzu. Zu dritt blicken sie mich an. Mitten in mein Gesicht, doch Kommunikation ist nicht möglich.
Matthew, der irgendwas an meinem Körper macht, seufzt. „Da sind wir nur noch zu dritt. Thomas ist tot.“ Seine Stimme klingt brüchig vor Bestürzung. Ich bin verwirrt. Was geschieht hier?
Wie viel Zeit ist bislang vergangen? Ich habe keinerlei Gefühl dafür. Und ich verstehe immer noch nicht, was hier los ist. Meine Kollegen haben mich aus der Höhle gebracht. Möchten sie nicht mit einer Leiche teilen, sagten sie. So haben sie mich immer wieder genannt: eine Leiche. Aber wie kann das sein? Ich denke noch, ich nehme alles um mich herum wahr. Doch mein Körper kann sich nicht bewegen. Wie kann das zusammenpassen? Sie haben mich für tot erklärt. Nun lieg ich hier draußen inmitten des Schnees. Anfangs konnte ich noch den klaren Himmel bestaunen, doch rasch bedeckte mich das dichte Weiß. Ich spüre die Kälte. Sie ist unerträglich. Und wenn ich fühle, wie kann ich tot sein? Sie machen einen Fehler. Sie lassen mich aus einem Irrtum heraus hier draußen sterben. Aber wie kann es sein, dass ich mich überhaupt nicht rühren kann? Was ist mit mir geschehen?
„Ach, du mein Armer. Es tut mir so leid.“ Es ist eindeutig James Stimme. Er hilft mir auf und zieht mich über den gefrorenen Boden. Wahrscheinlich bringt er mich in die Höhle zurück. Sehr gut. Vielleicht entdecken sie ihren Fehler und ich bin gerettet.
Er legt mich ab. Ich spüre die sachte Wärme des Feuers. Sie ist herrlich und eine wahre Wohltat.
„Wollen wir das wirklich tun?“ Matthews Stimme klingt brüchig wie die eines alten Bettlers.
„Was wollen wir denn sonst machen?“ So schroff wie diese Antwort kommt, muss es Henry sein. So war er schon immer. „Unsere Vorräte sind alle. Wir sind hier jetzt schon seit zwei Wochen. Wer weiß, wie lange wir noch ausharren müssen. Wer weiß, ob man uns überhaupt findet.“
Zwei Wochen? Es kommt mir vor, als hätte man mich erst vor ein paar Stunden in das Schneegestöber gelegt. Das kann doch alles nur ein sardonischer Scherz sein.
„Vielleicht hätten wir doch losziehen sollen. Wir hätten Hilfe suchen können.“
„In dieser Ödnis? Bei dem Wetter? Dies wäre auf jeden Fall der sichere Tod. Wir müssen hier warten und wir müssen überleben.“
„Aber das …“ James beugt sich über mich mit Tränen in den Augen. „Das ist grausam.“
„Manchmal muss man grausame Dinge tun. Ich werde auf jeden Fall nicht verhungern.“
„Aber seinen Körper so zu schänden?“
„Er ist tot. Es wird ihm egal sein.“
„Es ist widerlich, pervers.“
Schänden? Pervers? Was meint er damit. Ich merke, wie das nackte Grauen in mir aufsteigt. Etwas stimmt hier ganz und gar nicht und ich ahne, dass das Schlimmste erst noch kommt.
„Ich kann es aber nicht…also, an ihm rummachen.“
„Ich kann es auch nicht. Das muss jemand anders machen.“
„Ich mach es.“
James geht weg und Henry kommt zu mir. Er geht auf die Knie und flüstert mir zu. „Sorry, alter Kumpel. Aber du bist schon tot. Jetzt kannst du uns vielleicht retten.“
Er hält ein Messer in der Hand. In dem Moment wird mir voller Entsetzen klar, was sie vorhaben und ich wünsche mir panisch, dass sie mich wieder nach draußen bringen, wo ich für mich wäre. Ich möchte schreien und heulen, doch meine Verzweiflung verhallt in meinen Gedanken ohne Chance, nach draußen zu gelangen. Ich bettle und flehe innerlich, doch bleibe ungehört.
Das Messer dringt in meinen Leib ein. Der Schmerz ist höllisch. Stumm schreie ich mir die Seele aus dem Leib. Ich weine und kreische, ich bettle bei jedem Schnitt, bei jedem Stich, der sich durch die Muskelfasern frisst und meine Knochen bricht. Ich flehe um Gnade, möge Henry doch endlich aufhören. Doch er kann mich nicht hören. Er weiß nicht, welche Qual er mir gerade zufügt. Oh, wenn er das wüsste, was würde er dann empfinden? Der Schmerz ist unbeschreiblich und übersteigt jedes Vorstellungsvermögen. Grausamer ist nur die Ohnmacht, sich nicht dagegen wehren zu können. Sie treibt mich in den Wahnsinn. Ach, würde ich nur wahnsinnig werden, mein Verstand explodieren, dann bekäme ich vielleicht all dies nicht mehr mit. Noch lange nachdem mein unfreiwilliger Peiniger von mir abgelassen hat, ist mein Körper ein Lavabecken, so heiß brennend. Es soll aufhören!
„Es ist gottlos“, ruft jemand schrill. Ich kann seine Stimme nicht zuordnen. Aber es kann ja nur Matthew oder James sein. Henry hat ja eben gezeigt, wie kaltblütig er ist. „Es ist gottlos. Das können wir nicht machen.
„Iss oder verhungere. Deine Entscheidung. Mir ist beides Recht. Ich brate das Fleisch. Überleg es dir bis dahin.“
Jämmerliches Weinen erfüllt die Höhle. Nach einiger Zeit verstummt es und wird von begierigem Schmatzen abgelöst. Darauf ein Keuchen des Abscheus. Ein tiefes Rülpsen. Stöhnen. Erbrechen. Animalisches, sich selbst verdammendes Grunzen. Und noch mehr Schmatzen.
Die Zeit vergeht und ich liege immer noch so da. Mir ist weiterhin nicht klar, was genau los ist. Offenkundig bin ich tot. Ich kann natürlich nicht erklären, wie es funktioniert, dass ich noch denken kann. Aber vielleicht schlummert in uns eine Energie, die den Geist aufrechterhält, wenn der Körper schon längst versagt hat. Und vielleicht gibt der Körper nach dem Tod auch nur schrittweise auf. Wie sonst kommt es, dass ich noch Kälte, Wärme und sogar Schmerz empfinden kann – besser gesagt, konnte. Doch dieses Empfindungsvermögen gab irgendwann auch seinen Geist auf. Nachdem meine Kollegen sich noch paar Mal an mir unwissend von meiner Agonie sattgegessen hatten, hörte ich irgendwann auf, zu fühlen. Auch die Kälte des winterlichen Windes fühlte ich nicht mehr und auch nicht das Feuer, das allerdings schon lange erloschen ist. Jetzt denke ich nur noch, auch wenn von meinem Körper nicht mehr viel bleibt. Wahrscheinlich bin ich schon komplett skelettiert, aber betrachten kann ich mich nicht. Warum soll ich mir diesen Anblick auch antun?
Wie lange ich jetzt schon hier liege, entzieht sich meinem Wissen. Es mochten Monate sein. Ich hörte, dass James irgendwann ankündigte, loszuziehen, um nach Hilfe zu suchen. Die beiden anderen ließen ihn gehen Ich kann natürlich nicht sagen, was mit ihm geschehen ist. Ich vermute jedoch, dass er nicht überlebt hat. Zwischen Matthew und Henry nahm die Aversion immer mehr zu, wie ich vernahm. Es war jedoch keine von Verstand getriebene Auseinandersetzung. Was sie sagten, wie sie es sagten, wie ihre zivilisierte Sprache immer mehr in primitives Grunzen und Stöhnen überging, verriet, dass sie ihre menschliche Vernunft endgültig verloren hatten, nachdem sie mit dem Verschlingen meines Fleisches die Grenzen der Zivilisation überschritten hatten. Irgendwann gingen sie mit Gebrüll aufeinander los. Danach war es nur noch Henrys irrsinnige Stimme und sein Schmatzen, das ich vernahm. Dann wurde es ganz still.
Nun verweile ich gezwungenermaßen in dieser Höhle und denke über alles Mögliche nach. Ich frage mich, wie es meinen Kollegen nun ergeht. Sind sie auch Gefangene ihres Fleisches? Muss jeder Mensch nach seinem Tod wie ich so dahindarben?
Was ich allerdings festgestellt habe ist, dass mein Bewusstsein zu schwinden droht, je mehr ich mir den endgültigen Tod wünsche, sodass ich nichts mehr von dieser Welt mitbekomme. Es scheint so, als verlässt mich irgendetwas, je mehr ich mir das Nichts wünsche. Als entzieht man mir die Energie. Aber immer dann, wenn ich kurz davor bin, dass die Schwärze mich umschließt, schrecke ich zurück und klammer mich an die Fähigkeit, noch immer zu denken. Es hat den Anschein, als könnte man den endgültigen, den geistigen Tod mit seinem eigenen Willen bestimmen. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Vielleicht kann man auch im Tod dem Wahn anheimfallen.
Aber falls es doch so ist, dass ich meinen Zustand jederzeit verlassen kann, dann frage ich mich: Was kommt danach? Ist dann wirklich alles vorbei? Habe ich Ruhe? Oder folgt noch etwas Schlimmeres? Ich dachte immer, dass ich kein Pessimist bin. Aber das, was mir zuletzt widerfahren ist, hat mich umdenken lassen. Ja, ich bin sehr pessimistisch und das ist noch überaus euphemistisch ausgedrückt. Ich habe Angst. So schreckliche Angst. Ich habe Qualen erlitten, sicher. Die waren aber nur punktuell und da mein Nervensystem scheinbar endgültig lahmgelegt ist, muss ich auch keinen Schmerz mehr befürchten. Jetzt habe ich meine Ruhe. Was, wenn ich das Bewusstsein verliere, mich nur noch eine größere Pein erwartet – und dies für die Ewigkeit? So eine Art Hölle? Vielleicht bin ich aber auch bereits in der Hölle.
Ich finde keinen Mut, den letzten Schritt zu gehen. Zum Glück war ich schon immer ein Mann des Geistes, ein Intellektueller. Über Jahrzehnte habe ich mich mit der Philosophie und den großen Denkern beschäftigt. Nun habe ich genug Zeit, ihre Thesen noch einmal durchzugehen, sie zu hinterfragen und meine eigenen Gedanken über die Welt in aller Stille zu betrachten. Ich kann weiterhin neue Theorien aufstellen, vor allem auf Basis der Erfahrungen, die ich gerade mache. Mitteilen kann ich meine Erkenntnisse natürlich niemandem, aber es entspannt mich einfach so sehr, alleine durch die Welt des Intellekts zu wandeln.
Vielleicht finde ich ja irgendwann den Mut dazu, mich von dieser Welt zu verabschieden, um zu sehen, wo meine Lebensenergie weiterhinfließt. Kann man hier von einer Seele sprechen?
Vielleicht finde ich irgendwann den Mut, loszulassen, um eine weitere Reise anzutreten oder mich auf immer in die Leere geleiten zu lassen. Aber aktuell bin ich dafür zu ängstlich. Und so werde ich hier noch liegen bleiben. Jahre? Jahrzehnte? Keine Ahnung. Ich lass es auf mich zukommen.
Agonie

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