In den 1930er-Jahren und während des zweiten Weltkriegs gehörte Pierre Drieu la Rochelle zu den führenden Intellektuellen Frankreichs – und zu den umstrittensten. Nicht nur, dass sein Charakter durchweg von etlichen Widersprüchen in Denk- und Handlungsweise begleitet wurde, er wandte sich nach einer Zeit, denen er linken Ideen anhing, dem Faschismus zu und betätigte sich als Nazi-Kollaborateur während des Vichy-Regimes. Dementsprechend gab es in Frankreich auch einige Diskussionen, als ein Teilwerk des Autors in den Pantheon der französischen Literatur aufgenommen wurde – wobei seine Werke in einem gewissen Umfang heute durchaus als nationales Kulturgut gelten. Und das zurecht. Als immer wiederkehrendes Thema die Dekadenz der französischen Oberschicht kritisierend, zeichnen sich seine Werke durch eine akkurate Beschreibung menschlichen Verhaltens aus. Und gerade dieses Gespür, sich mit verschiedenen Verhaltensmustern auseinanderzusetzen, macht die Komödie von Charleroi zu einer empfehlenswerten Lektüre.
Der Krieg aus verschiedenen Perspektiven
La Rochelle war selbst als Soldat im ersten Weltkrieg aktiv und kämpfte in der Schlacht von Verdun, wo er sich auch Verwundungen zuzog. Es sind seine Erfahrungen, die mit in die verschiedenen Kurzgeschichten einfließen, aus denen sich die Komödie von Charleroi zusammensetzt. Denn darum handelt es sich bei dem Buch: Eine Zusammenstellung mehrerer Kurzgeschichten aus der Sicht unterschiedlicher Charaktere geschildert. Dabei bietet der Autor dem direkten Kriegsgeschehen ebenso Raum wie der Zeit danach. Zentrales Element: die Desillusionierung angesichts der tatsächlichen Kriegshandlung, die von jeder romantisch-heroischen Heldenvorstellung abweicht. Aber auch die Orientierungslosigkeit der Kriegsheimkehrer wird auf unterschiedliche Weise thematisiert. Dabei versetzt sich la Rochelle in so unterschiedliche Charaktere, manche wohl vollständig aus der Beobachterperspektive, andere wiederum mit eigenen Wesenszüge versehen. Dass zum Beispiel in den einzelnen Geschichten immer wieder Figuren auftauchen, die sich der gesellschaftlichen Intellektuellen zurechnen lassen und die ihren Platz finden müssen inmitten der Befehlshierarchie, zwischen Kommandanten und dem Soldatentum, im direkten Zusammensein mit Angehörigen der Arbeiterklasse, mit denen sie sonst wenig Kontakt haben. Hier könnte es durchaus sein, dass der Verfasser seine eigene Gefühlslage in der damaligen Situation mit einbringt.

Soldaten, die aus Ruhmsucht und dem Verlangen nach Heldentum heraus in die Schlacht ziehen, nur um mit der Realität konfrontiert zu werden, eine Dame, die auf der Suche nach dem Grab ihres Sohnes ist, den sie aus ebensolchen ruhmsüchtigen Motiven in den Krieg geschickt hat, Befehlshaber, die sich aus Feigheit versetzen lassen, Desserteure, die nicht feige sind, aber dem europäischen Wesen überdrüssig, ein Offizier der die alte Art der Kriegsführung bewunderte und die neue Form, die maschinell geführte, verachtet – der Autor versteht es vortrefflich, die verschiedenen Positionen einzunehmen und die Beweggründe in messerscharfen Dialogen darzustellen.
Gedankenwelten des Autors
Manchmal schlicht neutral, dann aber wiederum kritisch und anklagend schreibt la Rochelle, wobei seine Ansichten immer wieder mit einfließen. Beispielsweise beim besagten Offizier, der die moderne Kriegsführung ablehnt (und sich nach Afrika zurückziehen möchte): Im Rahmen der Geschichte spricht dieser vom sogenannten demokratischen Krieg als ein Übel für die Menschheit. Die Demokratie war für Pierre Drieu la Rochelle seit seines Lebens ein System ohne Nutzen. Gleichzeitig sprach er sich jedoch für eine Art europäischen Union zwischen den Machtblöcken Russlands und den USA aus, die durch ein einheitliches Machtsystem zementiert sein musste. War dies erst der Kommunismus, später dann der Faschismus und noch später allerdings wieder der Kommunismus, dem der seelisch zerrissene Intellektuelle den Sieg wünschte. Diese Absage an der Demokratie kommt auch in dem vorliegenden Buch immer wieder durch, auch wenn sie durch Protagonisten der Geschichten hervorgetragen wurde. Muss man diese Geisteshaltung natürlich nicht teilen, ändert sich nichts an der Faszination daran, wie packend der Verfasser die Irrungen und Wirrungen des ersten Weltkriegs und die verschiedenen Betrachtungsweisen schildert. Und ja: Wie sich Menschen von einer Ideologie in ihrer inneren Zerrissenheit zur anderen hinbewegen, wird ebenso thematisiert.

Sprachlich leicht zu erfassen
Sprachlich ist die Komödie von Charleroi recht einfach geschrieben, auch wenn hier und da bildungssprachliche Begriffe auftauchen, vor allem dann aber, wenn den Gedanken Raum in ruhigen Momenten bleibt. Gleichzeitig ist la Rochelles Stil auf den Punkt, wenn es darum geht, das direkte Kampfgeschehen zu schildern. Der Leser kann hier sehr gut eintauchen. Einzig was mir auffiel: An einigen Stellen werden Begriffe in kurzer Folge wiederholt verwendet. Dies mag einerseits seine Wirkung als Stilmittel nicht verfehlen, um einen Sachverhalt zu betonen, ist aber in anderen Szenenbeschreibungen etwas deplatziert. Hier kann ich jedoch nicht sagen, ob dies auf die deutsche Übersetzung zurückgeht oder von la Rochelle tatsächlich so konzipiert wurde. Große Probleme in der Stilistik treten allerdings nicht auf.
Darf man einen Faschisten lesen?
Am Ende möchte ich diese im Teaser aufgeworfene Frage noch einmal aufgreifen die bereits gegebene Antwort bekräftigen: Ja! Man darf! Im Zuge des „Skandals“ von der letzten Frankfurter Buchmesse, auf der der Jungeuropa Verlag ausstellte, hat sich Welt online des Verlagsprogramms einmal kurz angenommen, um zu verdeutlichen, wie verwerflich dieses angeblich ist. Im entsprechenden Artikel wurde ebenso Bezug auf Pierre Drieu la Rochelle genommen, von dem einige Werke im Jungeuropa Verlag veröffentlich wurden. Jetzt zu sagen, dass der Autor Faschist und Nazikollaborateur war und deswegen nicht gelesen werden darf, greift aber zu kurz. Wie gesagt, zählt der Autor in Frankreich zum Kulturgut. Außerdem wurden einige Werke in renommierten Verlagen publiziert. Die Komödie von Charleroi liegt mir in einer Ausgabe vom Manesse Verlag für klassische Literatur vor, der zur Penguin Random House Verlagsgruppe gehört. Abgesehen mal davon: Trennt man die Ideologie des Autoren vom Werk an sich, dann bleibt durchaus ein erhellendes und packendes Buch, das eindringlich allerhand irrsinnige Situationen darstellt, die sich so im ersten Weltkrieg wirklich ergeben haben könnten, sowie die Konflikte denen sich Soldaten und Heimkehrer zu stellen haben. Ein Werk, das zum Nachdenken anregt. Und wer das Wesen der Literatur tatsächlich durchdringen möchte, der sollte sich auch umstrittenen Autoren stellen und ein Werk an sich beurteilen, jedoch keine Pauschalverurteilung nach Gesinnung vornehmen.
Wie Du richtig sagst, sollte man den Inhalt beurteilen und nicht die individuelle politische Haltung des Autors.
Ich lese auch Texte von Sozialisten, weil ich einfach wissen möchte, welche Argumente vorgebracht werden, damit ich dann über meine Argumente mit anderen ins Gespräch kommen möchte. Bisher hat noch kein einziger Linker meine Kommentare veröffentlicht.
Das sind dann die berühmten Blasen.
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