Energie

„Der Fuß gibt die Kraft. Du bist die Energie.“
Elliot hatte diesen Slogan bereits zu oft gehört, als dass er sich davon noch angespornt fühlte. 18 Jahre der Arbeit am Rad, jedes Jahr im 10 Monatsdienst – die Parole war für ihn vor langer Zeit schon zu einer Selbstverständlichkeit verkommen wie der allmorgendliche Gedanke, einen neuen Tag zu begrüßen. Sie war seine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft. Sie animierte ihn zu dem, was nur natürlich war als guter Bürger, der das Allgemeinwohl im Blick hatte. Sie war die Essenz seines Tuns. Was ihm allerdings mehr Motivation verschaffte, war zu sehen, wie sich seine Mühe quantitativ niederschlug. Neuer Energiezuwachs um 23 Prozent im letzten Quartal, flimmerte es über dem Bildschirm vor seinem Rad. CO2-Redukion um weitere 46 Prozent. Es folgten Aufnahmen von Katastrophen, die Elliot noch nach hunderten Malen Tränen in die Augen trieben. Koalabären verendeten in lodernder Feuersbrunst. Dörfer in Südostasien wurden von gewaltigen Fluten hinfort geschwemmt. Staubige Abenddämmerung tauchte rissigen Boden in Feuerrot, dort wo einst von Flüssen genährtes fruchtbares Land erblühte.
Dann der Gegenentwurf: Grasgrüne Hügel, satte Felder und mächtige Gletscher, die im Sonnenschein mit dem tiefblauen Meer um die Wetter schimmerten, aus dem heraus im nächsten Ausschnitt Delphine fröhlich-verspielt in die Luft schossen.
„Wir können es schaffen, den Planeten zu retten“, sprach die vertraute Stimme, die seit Elliot zurückdenken konnte mit Güte und Zuversicht inspirierte. „Zusammen für eine bessere Welt.“
„Jaaaa“, johlte die Masse. 500 Stimmen, die energisch ihre Solidarität bekundeten. Und Elliot wähnte sich stolz als einer von ihnen. Dabei waren sie nur eine kleine Einheit unter vielen. Aber sie waren ein Teil von etwas Wichtigem und erfüllten eine ehrenvolle Aufgabe: sauberen Strom, durch die originärste Form der Energieherstellung. Muskelkraft, Fleisch und der Wille zur Veränderung.
Bereits bei seiner Geburt war sein Platz in der Gesellschaft festgeschrieben. Aufgewachsen mit der Mahnung, dass die Erde vor dem Kollaps stünde, drehte sich seine gesamte Schulbildung darum, den Wert von Umwelt- und Klimaschutz zu erkennen. Da er der Profession als Energieproduzent zugeführt wurde floss ein weiterer Teil seiner Ausbildung in den Aufbau seines Körpers. Gestählte Beine, bewusster Geist. Unter diesem Motto nahm Elliot seine Rolle mit unzähligen anderen Menschen ein, denen die Aufgabe der Energiegewinnung übertragen wurde. Sie alle bildeten die wichtigste Klasse von allen: das energetische Proletariat.
Das schrille Heulen der Abendsirene ertönte. Feierabend. Beinahe simultan standen alle Arbeiter auf und verließen ihren Tätigkeitsplatz. Im selben Augenblick marschierte die nächste Schicht durch den Eingang auf der anderen Seite herein und nahm die Arbeit auf. 6 Minuten, in denen die Produktion unterbrochen wurde. Kein schlechter Wert. Durch effiziente Prozesse war es möglich, die Zeit von ehemals 17 Minuten herabzudrücken. In 12 Stunden würde Eliott wieder an der Reihe sein – normalerweise. Doch er hatte 10 Monate abgearbeitet und sich eine zweimonatige Ruhepause verdient. Im rhythmischen Schritt ging er zu seiner Baracke, die Platz für 20 Personen bot. Mit der Zufriedenheit getaner Arbeit als sein Lohn an sich selbst ließ er sich auf seine Pritsche fallen und das Geplapper seiner Zimmergenossen auf sich wirken, während er darauf wartete, dass die Kantine geöffnet wurde.
 „Und für dich steht morgen der Urlaub an?“.
Es war Fred, der frage. Ein breit gebauter Mann mit derb-zerfurchten Gesichtszügen, aus denen seine leuchtend blauen Augen hervorstachen wie Kristall aus einem trostlos-grauen Bergmassiv. Man sah ihm an jeder Falte auf der blassen Haut an, dass er einer der Dienstältesten in diesem Arbeitsbataillon war.
„Ja“, antwortet Elliot. „Die Zeit ist gekommen. Endlich etwas mehr als das Freizeitgelände.“ Sein Blick versank in Freds trüber Miene, die auch seine Zukunft prophezeite. Es war kein Geheimnis, dass Motiva-G die physische Stärke und die Kondition in ein Maß steigerte, von der Top-Athleten noch nach Jahren des intensiven Trainings nur träumten, doch dem Antlitz zusetzte. Fred war gerade einmal 37 und wirkte wie 60. An Kraft mangelte es ihm nach wie vor nicht, wenngleich ihm einzelne Aussetzer anzumerken waren. Vorletzte Woche hatte er in seiner Schicht die festgesetzte Durchschnittsgeschwindigkeit von 50km/h unterschritten. Dass es ihm eines Tages ebenso erging, darüber machte sich Elliot keine Gedanken. Das Wissen, nicht mehr voll leistungsfähig zu sein, war zu bedrückend, um darüber zu sinnieren. Und Aussehen war ihm egal. Das Streben nach Schönheit war überflüssige Dekadenz.
„Es geht nach draußen?“, fragte Fred.
„Ich habe ein „Green Ticket“ erworben. 100 Mal die höchste Einzelstromproduktion an einem Tag in unserer Einheit.“
„Das klingt gut.“ In Freds Augen trat eine beneidende Traurigkeit. „Ich wünschte, mir gelänge dies.“
„Vielleicht knackst du die 100 auch noch.“
Freds klobiger Kopf nickte im Takt einer Pumpe und presste ironisch-gequält ein „Ja, sicher“, hervor. Es folgte ein gekünsteltes Lachen. „Ich bin gut, aber einer ist doch immer besser.“ Er kicherte nochmal. Seine humoristische Sprechweise war ein schwacher Versuch, um die Gebrochenheit zu verschleiern, von der seine Mimik erzählte, die so einfach zu lesen war wie ein Kinderbuch.
„Erzählst du mir, wie es draußen war? Ich habe schon einige Geschichten gehört. Aber jede Erfahrung klingt so viel anders. Ich würde gerne verschiedene Eindrücke hören.“
„Ich erzähl es dir“, versprach Elliot. „Aber lass uns jetzt essen.“
Am nächsten Tag stand Elliot pünktlich um 5 Uhr mit denen auf, die wie gewohnt ihren Dienst antraten. Anstatt jedoch mit ihnen über den betonierten, abgeschotteten Hof zur Produktionshalle zu gehen, meldete er sich im Untersuchungszentrum. Zwei Paar Augen von akademischer Strenge empfingen ihn, begleitet von der Frage nach dem Anliegen, die in drei Silben abgehandelt wurde. Elliot mochte das Untersuchungszentrum nicht. Zu steril war ihm die Räumlichkeit, zu wenig vom Duft der körperlichen Arbeit beseelt, der wie kaum etwas Anderes für echten Tatendrang stand. Ohne Frage: Die Denker waren die Visionäre. Aber keine Vision konnte verwirklicht werden, wenn der Geist letztendlich nicht in Materie umgesetzt wurde, in etwas Greifbares. Und dies war nur durch arbeitendes Fleisch möglich.
Eliott reichte seinen Urlaubsbescheid. Urlaubsbewilligung ab dem 01.09.2031. Mehr Infos brauchte es nicht. Die Prozedur zu diesem Anlass war fest bis ins Detail vorgegeben. Erst maßen die Ärzte die Dosis Motiva-G in seinem Blut. Dann führten sie einen Gleichgewichtstest durch, stellen ein paar Fragen zu seiner Befindlichkeit, nahmen Blut und führten ein Gegenmittel zu. Das einzige, was Elliot von diesem Mittel wusste, war, dass es eine Art Neutralisierung von Motiva-G darstellte. Während Motiva-G jedoch einmal in der Woche gespritzt werden musste, reichte zur Auflösung dessen Wirkung eine Spritze der anderen Substanz. Ohnehin hatte er keine Ahnung, was mit dem Verfahren genau alles überprüft wurde. Aber dies zu wissen, war nicht seine Aufgabe. Die Untersuchung dauerte knapp eine Stunde. Mit der Anordnung, zwei Tage Ruhezeit einzulegen, wurde Elliot entlassen. Er nahm die Empfehlung der Ärzte ernst und schonte seinen Körper für die veranschlagte Zeit. Meistens lag er in seinem Bett und dachte über seine anstehende Erholungszeit nach. Ab und an stand er auf und vertrat sich die Füße im Freizeithof, wo er an den wohlriechenden Regenbogen vorbeischritt, zu dem sich die farbenfrohen Blüten von Veilchen, Lilien, Geranien, Maiglöckchen, Rosen und vielen weiteren Blumen vereinigten. Ein prachtvolles Schauspiel, besser als jedes dekadente Theater oder Kino. Manchmal las er. Ausnahmslos war die Bibliothek mit Schriften bestückt, die den Kampf gegen den Klimawandel weiterdachten und über die Fehler der Vergangenheit aufklärten.
Schließlich war es soweit: Der Tag, an dem Elliot endlich die Gelegenheit bekam, für eine Woche die Stadt zu erkunden. Befeuert von wenigen bekannten Geschichten überschlugen sich die wildesten Fantasien in seinen Gedanken. Sein Herz raste im Takte der über die unebene Straße holpernde Rikscha, die ihn zum Haupttor der Anlage brachte, das die Grenze zwischen seiner bekannten Welt und dem großen Mysterium markierte. Endlich würden seine Augen die Ergebnisse seiner Arbeit in ihrer Natürlichkeit erblicken. Sein Mund stand genauso weit offen, wie das Tor. Sein Erstaunen war vollkommen. Die Stadt war in allen möglichen Grüntönen bekleidet, von sanft dahinschlendernden kristallklaren Bächen durchzogen und makellos sauber. Kleine Häuser aus Holz fügten sich nahtlos in das Ambiente ein. Eines dieser Domizile würde für eine Woche ihm gehören, Seite an Seite mit anderen Menschen, die die Belohnung für ihren Fleiß in vollen Zügen auskosteten. Einige dieser Glücklichen erspähte Elliot dabei, wie sie mit nie gekannter Entspannung durch die natürlich bewachsenen Parks und Alleen wandelten, deren floralen Farbenpracht allenfalls aus seinen Träumen bekannt war. Mochte das Los seiner Existenz mit Mühen verbunden sein, führten seine Strapazen zu dieser Opulenz, in der menschliche Zivilisation und Natur vereint waren, war die Bürde ein Segen. Er konnte es kaum erwarten, mehr davon zu erkunden.
„Die  Simulation hat begonnen“, sagte einer der Wissenschaftlicher. „Die Erinnerung wird im Chip gespeichert.“
„Sehr gut“, antwortete der andere. „Dann lassen wir ihn seinen Urlaub genießen. In einer Woche stecken Sie ihn ab. Ich werde mich dann auch verabschieden.“
Damit ließ der Wissenschaftler die von ihm geschaffene Welt der Illusion hinter sich, stieg in seinen Lamborghini Veneo Roadster und navigierte durch die gewaltigen Straßenschluchten der Luxusmetropole Neo-Frankfurt hin zu seiner 500 Quadratmeter großen Villa. Feinste Noblesse, rund um die Uhr energetisch versorgt durch altruistische Träume und Kraft.

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