Prometheus: Lange ist es her, seit die Übel in die Welt kamen. Für uns nur ein Augenblick, doch lange für die Menschen. Und nichts hat sich seitdem geändert. Die Technik der Menschen hat sich gewandelt. Das Feuer des Olymps haben sie gut weiterentwickelt. Und doch: Die Übel und das Ungemach blieben dasselbe. Kriege, Krankheiten, Hass, Verdorbenheit und der Tod. Und vieles mehr. Mein Bruder Epimetheus. Dir muss es noch immer nachhängen, was du auf die Erde gebracht hast ganz unwillentlich.
Epimetheus: Ja, bis heute kann ich meine Schuld nicht leugnen, wie unvorsichtig ich war, als ich mich habe von Pandora täuschen lassen. Ich habe deinen Rat nicht befolgt und ein Geschenk der Götter angenommen.
Prometheus: Ein Geschenk, dass so viel Unheil gebracht hat über jenes Geschlecht, das mir so an Herzen lag. Ich weiß, ich sollte mich nicht weiter damit gramen. Doch komme ich nicht darum herum, meine Gedanken dahin schweifen zu lassen, was wäre, wenn das Gefäß nie geöffnet geworden wäre. Was für ein schöner Ort wäre die Erde für die Menschen gewesen. Aber hier muss auch ich mit der Schuld leben. Immerhin hat Zeus seinen Plan listigen Plan er auf meine Taten hin ersonnen. Hätte ich die Menschen nicht angeleitet, die Götter zu betrügen, so hätten sie letztendlich selbst nie erfahren, was Betrug ist.
Epimetheus: Gehe nicht hart mit dir ins Gericht. Du bist nur nach deiner Überzeugung gegangen, weil du die Menschen liebtest. Aber weißt du was. Ich habe lange darüber nachgedacht und bin letztendlich zu einem Entschluss gekommen. Unsere beiden Fehler, die wir begangen haben, diese waren in letzter Konsequenz keine Fehler. Wenngleich es nicht gleich erkennbar war, haben unsere Handlungen so viel Positives bewirkt.
Prometheus: Es klingt merkwürdig, wenn du von Positiven sprichst, während jetzt in diesem Moment wieder Menschen Leid erdulden. Sie verhungern, ermorden sich, sterben im Krieg oder versinken in endloser Trauer. Bricht es dir nicht auch von Zeit zu Zeit das Herz?
Epimetheus: Früher. Und da habe ich mich verdammt. Aber nun ist genug Zeit vergangen und ich habe verschiedene Beobachtungen angestellt. Ich konnte Vergleiche ziehen. Mochte man mich stets als jemanden verspotten, der erst spät zur Erkenntnis kam und oft, wenn es schon zu spät war, aber wenn in mir nachträglich das Bewusstsein über einen Sachverhalt reifte, dann dafür gut. Und mit etwas Distanz kam ich auch nun zu einer Feststellung.
Prometheus: Und die da wäre?
Epimetheus: Ich habe einst unter den Menschen gelebt, als es noch keine Übel in ihrer Welt gab. Ich weiß noch ganz genau, wie es damals war und ich wandle nun über die Erde und erblicke, wie sich alles geändert hat. Wie sich die Menschen geändert haben. Und ich denke, es ist ganz in deinem Sinnen. Und müsste ich die Entscheidung noch einmal treffen, ja ich würde das Gefäß, das Pandora mir überreichte, noch einmal öffnen. Ich würde es vollständig zerstören, dass niemals etwas darin zurückkann.
Prometheus: Erkläre es mir genauer.
Epimetheus: Sieh. Du hast den Menschen das Feuer gebracht. So hast sie erleuchtet und du hast ihnen gezeigt, dass man gegen die Götter aufbegehren kann. Du wolltest sie unabhängig von den Göttern machen. Aber was war das ganze Feuer wert, wenn es keinen Grund gab, es zu nutzen? Ja. Früher waren die Menschen glücklich und sorglos. Aber sie waren auch lahm im Geiste, träge und alle konform. Weil es keine Konflikte, keine Antipoden gab. Die Menschen waren auch mit dem Feuer in Abhängigkeit und eine trübe Masse. Keiner hatte einen echten Charakter. Wie denn auch, wenn jeder in der gleichen Glückseligkeit aufgewachsen ist? Das erforderte natürlich kein Umdenken. Du wolltest die Menschen unabhängig machen? Dann konnte nichts Besseres geschehen, als dass die Übel auf sie losgelassen wurden.
Prometheus: Ich weiß nicht so recht, was ich von deiner Ausführung halten soll. Ich sehe deinen Standpunkt und welcher Gedanke dahintersteckt. Aber erscheint er mir zu finster. Oder sehe ich es in dem Fall falsch?
Epimetheus: Du magst zwar weiser als ich sein, aber in dem Fall trübt deine Befindlichkeit womöglich deinen Verstand. Aber denke doch objektiv an früher zurück und vergleiche die Entwicklung der Menschheit? Wann hat sie sich aufgerafft und an ihrem Voranschreiten gearbeitet? Immer dann, wenn es darum ging, Probleme zu lösen. Und ich rede nicht nur von der Technik. Es geht auch um die grundlegenden moralischen Fragen. Wie kann man über Moral reden, wenn es ohnehin keine Unterschiede gibt und keine Übel? Wenn alle gut wären, wie könnten die Menschen dann über das Gute reflektieren, wenn es nur einen Zustand gäbe. Und wie könnten sie über Heil und Unheil urteilen und darüber debattieren, welche Zustände wünschenswert sind und welche nicht, wenn sie nur in einem wünschenswerten Zustand leben. Es braucht letztendlich Kriege, Morde, Gewalttaten, Verbrechen, Hunger und Krankheiten, damit die Menschen ihren Geist voranbringen, um diese Probleme anzugehen und im gegenseitigen intellektuellen Austausch zueinander zu stehen. Sie brauchen solche Dinge, um immer wieder diesen Gegensatz vor Augen zu haben und sich stets aufs Neue zu fragen, wo moralische Linien zu ziehen sind und ein Verständnis davon zu haben, dass Glückseligkeit nicht selbstverständlich ist. Und ja, so manches Übel wird dem anderen nicht gar so übel sein. Aber das ist es, was den Menschen ausmacht. Seinen eigenen, individuellen Charakter. Natürlich. Manche Charaktere, auch kollektive Ausprägungen größerer Gruppen, nennen wir es zum Beispiel Kultur, mögen sehr konträr gegenüberstehen, sogar feindselig. Aber diese Feindseligkeit ist auch der Grund, warum es ebenso Harmonie gibt. Weil sich die Menschen ihre Vorstellungen vom Leben entwickeln und was ihnen wichtig ist. Und jeder kann davon abweichen und im Zwiegespräch dann wiederum für sich die eigenen Schlüsse ziehen, die er in seinem weiteren Werdegang übernehmen möchte. Und er findet sich mit gleichgesinnten zusammen. Sprich: Die Existenz der Übel gewährte erst die Unabhängigkeit des Menschen.
Prometheus: Je mehr ich über deine Worte nachdenke, desto mehr möchte ich dir durchaus zustimmen. Doch dass viele Menschen tagein, tagaus Ungemach erdulden, das betrübt dennoch. Du kannst mich hier doch verstehen?
Epimetheus: Gewiss kann ich das. Aber solange Teile der Menschheit leiden müssen, desto größer ist das Potenzial, dass sich die Menschheit als Gesamtes weiterentwickelt und sich in einer beständigen geistigen Evolution befindet. Würden wir alle Übel wieder verbannen, was wäre die Erde für ein Ort für die Menschen? Alle wären fröhlich und unbekümmert, müssten sich aber über nichts mehr Sorgen machen. Kein Streit. Kein Konflikt. Kein Ansporn zur Problemlösung. Alle würden grinsend umherlaufen, munter, aber intellektuell nahe an der Degeneration. Es wäre kein Unterschied zu jener Zeit, als die Menschheit sich noch Zeus Launen unterordnen musste. Diejenigen, die ewiges Glück für alle fordern, sind Narren, die Angst vor einem echten Leben haben und die sich mit einer leeren Existenz begnügen. Also ja: Müsste ich entscheiden, ob die Erde wieder ohne die Übel wäre oder mit diesen, dann würde ich Letzterem heute ohne Reue den Vorzug geben. Der Schmerz einzelner Menschen oder Menschengruppen ist nur ein geringer Preis für die Menschen als autonome Wesen, die den Verstand, der ihnen geschenkt wurde, tatsächlich nutzen müssen, um etwas in ihrem Leben zu verbessern. Und da gibt es für mich kein Übel, das so schlimm ist, dass ich den Zustand der euphorischen Lethargie bevorzugen würde, nur um es zu weg zu haben. Nicht der Krieg, nicht der Hunger und der Tod, nicht, dass sich die Menschen wegen ihrer Meinung bekämpfen. Nicht der Gewalttäter. Es sind keine schönen Dinge und natürlich sollten die Übel angegangen werden. Aber nicht zum Preis eines kollektiven apathischen Zustands, der die Menschen zu einem seelischen Monolithen macht. Äußerlich prachtvoll und makellos, unter der Fassade jedoch öde und farblos.
Prometheus: Und was ist mit der Hoffnung? Wie ist deine Meinung zu ihr?
Epimetheus: In ihr vereinigt sich alles, was sich gerade ausgeführt habe. Das Gute und das Schlechte. Hoffnung inspiriert und sie lässt verzweifeln. Unter Umständen ist Hoffnung ein Übel, wenn sie nicht erfüllt werden kann. Aber auch zerschmetterte Hoffnungen und Verzweiflung gehören zum Leben der Menschen dazu. Zur Autonomie gehört auch, dass sich nicht alles erfüllt, was man sich erhofft. Manchmal muss man Hoffnungen auch bewusst zerschmettern, um Wahrheiten zum Sieg zu verhelfen oder eine richtige Handlung in den Blick zu nehmen. Zerstörte Hoffnungen sind es zudem meist, die mehr Realität in sich bergen und die zu einer Handlung mit bestmöglichem Ergebnis führen. Und in diesem Sinne geißle ich mich also nicht mehr. Und das solltest auch du nicht mein werter Bruder Prometheus.
Sehr schön geschrieben.
LikeGefällt 1 Person