Das Besondere an Nietzsches Moralphilosophie war, dass er im Gegensatz zu vorhergehenden Protagonisten nicht die Moral begründen wollte. Vielmehr hatte er in seiner „Genealogie der Moral“ die Herkunft moralischer Betrachtungsweisen abgeleitet und beschrieben, wie sich Moral im Laufe der Geschichte entwickelt hat. Ihm geht es darum, die psychischen Voraussetzungen für Moral zu analysieren. Nietzsche betrachtete den Verlauf der moralischen Historie als einen immerwährenden Kreislauf, der aus dem Willen zur Macht besteht. Wille zur Macht – das ist einerseits das Verlangen, Macht über andere auszuüben, aber anderseits das Begehren, Kraft seiner eigenen Moral Macht über sich selbst zu haben.
Neben der Abhandlung von Schuld- und Gewissensfragen befasst sich Nietzsches Streitschrift mit dem Gegensatz der Systeme „Gut und Böse“ sowie „Gut und Schlecht“, was sich in den Termini der Sklavenmoral und der Herrenmoral manifestiert. Weiterer wesentlicher Bestandteil der Abhandlung ist der Blick auf das asketische Ideal. Aus diesem Ideal geht die These hervor, dass der Mensch nicht nicht-wollen kann und es bevorzugt, das Nichts zu wollen. Sowohl das asketische Ideal als auch die Teilung der Welt in Gut und Böse erleben aktuell eine neue Renaissance. Aber worin zeigt sich dies genau?
Damit der Mensch vor sich Achtung haben kann, muss er fähig sein, auch böse zu sein.“
Friedrich Nietzsche
Ich habe mich in meinem letzten Beitrag damit befasst, auf welche Art und Weise die AFD als Totschlagargument instrumentalisiert wird, um bestimmte Themen und Positionen zu tabuisieren und in das Reich des Bösen zu bannen. An diese Stelle möchte ich ansetzen.
Wiederkehr der Sklavenmoral
Nicht nur, dass die Unterstützung durch die AFD, ob gefragt oder nicht, ein Ausschlusskriterium ist in diesem Land, wird der substanzlose Angriff durch die ad hominem Charade in bester Zuverlässigkeit durch die üblichen Plattitüden unterstützt: Rassismus, Menschenfeindlichkeit gehören ebenso dazu wie die mantraartige Beschwörung von Mitleid, Solidarität und Nächstenliebe und dies zur Honorierung eines falschverstandenen Humanismus als Götzenbild, das das Paradies auf Erden verspricht. Der moderne Humanismus, eine pervertierte Form dessen, was uns die Aufklärung gebracht haben soll, die uns eigentlich von Dogmen und Zwängen starrer verpflichtender Ideologien befreit haben sollte, jedoch nun wieder ein paar Schritte zurückgeht zu jenen Zeiten, in denen Folgsamkeit, gut zu sein und Selbstgeißelung als Prämisse für das Seelenheil ausgegeben werden. Ob es darum geht, eine starre Corona Politik zu verfolgen, die dem Gesundheitsschutz alle unterordnet und noch so dramatische Kollateralschäden in Kauf nimmt, eine überstürzte Energiewende zu vollziehen, die sich jetzt erst recht rächen wird oder eine Einwanderungspolitik verfolgt wird, die ob ihres chaotischen Charakters eine solche Bezeichnung nicht verdient hat und eben nicht nur Positives mit sich bringt. Dazu kommt eine Wissenschaft, die sich in Teilen der kompromisslosen Verzichtsmaxime gestellt hat. Beispielhaft sei das kürzlich erschienene Buch „Verbot und Verzicht“ von Philipp Lepenis zu nennen (werde ich vielleicht noch dezidiert vorstellen), das eine vermeintliche Lösung für den Klimawandel skizziert, die sich in Askese und einem übergriffigen Staat erschöpft und all die liberalen und libertären Denker von Friedmann über von Mises bis Hayek als die Schreckgespenster ausgibt, die es auszutreiben gilt.

Weiteres Beispiel für eine akute Negativentwicklung: Der mediale Aufschrei, ob der Rosenmontagszug angesichts der katastrophalen Kriegssituation in der Ukraine stattfinden sollte. Einen ähnlichen Artikel setzte Spiegel online auf, als in einigen Bundesländern die Clubs wieder öffneten und die Jugend, die in den letzten zwei Jahren aus „Solidarität“ so oft zurückstecken musste, endlich etwas Ausgelassenheit suchte. SPON stellt sich sogleich die Frage, wie sich dieses Gefühl der Unbeschwertheit mit dem Leid in der Ukraine vertragen lässt. Wenn wir diese Logik jedoch konsequent verfolgen, dann müssten wir Spaß grundsätzlich zur Sünde erklären, da jeden Tag zu jeder Stunde zu jeder Minute und jetzt in jeder Sekunde, die ich hier tippe und die der Leser liest, etwas Schlimmes auf der Welt geschieht. Wenn es darum geht, Mitleid einzufordern und in Gram und Betroffenheit zu verharren, dann sind deren Befürworter immer an erster Stelle und am lautesten. Doch wo sind diejenigen, die sich auch einmal für Mitfreude aussprechen (eine Forderung, die auch Nietzsche aufstellt)?

Die Sklavenmoral ist zurück und macht sich daran, wieder tief in der Gesellschaft zu verwurzeln. Es sind diejenigen, die hinter ihrem eigenen Potenzial zurückstecken und im Verzicht für andere aufgehen, die das Ansehen der Masse genießen. Die Herrenmoral im modernen Sinne verstehe ich als ein Bekenntnis zum Individualismus, der im Jahr 2022 wieder so sehr verteufelt wird und im Meer aus undefinierter Solidarität, kollektivistischer Identitätspolitik und Neo-Flagellantentum untergeht. Diejenigen, die am meisten und lautesten das Leid der Welt beklagen und immer wieder zur Schau stellen, sich in ihrem Mitleid suhlen und Nächstenliebe bis zur Selbstaufgabe praktizieren, sind es die dazu beitragen, den Wert des Individuums dem Recht der Sklavenmoral unterzuordnen. Es sind auch die, die das Nichts wollen und sich Vorteile durch den proklamierten Verzicht erhoffen. Selbstentwürdigend und dann in den Augen anderer in Märtyrer-Manier über allem schwebend. Erhöhung durch Erniedrigung. Wer davon abweicht, ist der Böse. Und wer das Böse nicht mit verdammt, ist ebenso böse.
Aber was ist nun daran verkehrt, böse zu sein?
Der liberale Gedanke baut auf das Individuum auf. Selbstverständlich mit Schranken, die dann greifen, wenn die Rechte anderer verletzt werden. Längst geht es aber nicht mehr um die Einhaltung dieses liberalen Prinzips, sondern um dessen inflationären Auslegung. Im letzten Beitrag habe ich mich auf Beatrix von Storchs Rede zu der Frage, was eine Frau ist, bezogen. Hier wurden Herr/Frau Ganserers Grundrechte nicht im Geringsten tangiert, vielmehr haben wir es schlicht mit verletzten Gefühlen zu tun. Ein moralisierender Aktivismus hat gemäß der eigenen Weltanschauung das Grundgesetz mal eben um ein neues Recht erweitert und setzt dieses mit empörtem Furor durch. Die Politik macht sich damit gemein und bedient sich des gleichen Duktus, der sich eben aus diesem Betroffenheitspopulismus speist. Und wer nicht mitmacht? Nun, der gibt der AFD Recht (ungeachtet dessen, dass Frau von Storchs Argumente schon vorher von renommierten Persönlichkeiten hervorgebracht wurden), der ist der Böse und der gehört verdammt.

Aber ist man denn wirklich böse, im Sinne, dass man ein schlechter Mensch ist? Ich denke nicht. Man ist es ebenso wenig, wenn man auf keine Demo gegen rechts geht oder sich gar als rechts (nicht extrem) bezeichnet. Man ist nicht schlecht, wenn man kritisch gegenüber der Wissenschaft eingestellt ist oder nicht möchte, dass wissenschaftliche Ergebnisse einfach so mal die Frage nach der rechtlichen Abwägung aushebeln und Forscher in technokratischer Manier die Politik bestimmen. Man ist ebenso wenig ein schlechter Mensch, wenn man weiterhin etwas Luxus genießen und Spaß haben möchte, solange man niemandem im ungezügelten Hedonismus Schaden zufügt. Und zu einem schlechten Menschen wird man auch nicht, wenn man seine ehrliche Meinung zu einem Lebensentwurf sagt und diesen ablehnt. Jeder hat das Recht, etwas abzulehnen. Gemäß des Freiheitsbegriffs von Rousseau, der auch Vorbild für den modernen Liberalismus ist, bedeutet Freiheit nicht, zu machen, was man will, sondern, dass man nicht machen muss, was man nicht will. Und wenn es als gut gilt, Kapitalismus, sogenannte „neoliberale“ Politik abzulehnen, warum ist es dann böse, wenn man sich gegen linke Politik stellt, nur weil man dann Beifall von den Falschen kriegt? Und warum ist es böse, eine Religion zu kritisieren, wenn doch Religionen auch nur Ideologien sind und sich auf der gleichen ebene wie politische Ideen befinden? Was gut und böse ist, legt die Sklavenmoral für gewöhnlich willkürlich je nach bestehenden Machtverhältnissen aus. Und in diesem Sinne hat Nietzsche Recht, wenn er sagt, dass man bereit sein muss, böse zu sein. Es geht nicht darum, ein Verbrecher zu sein und jemandem mutwillig Ungemach angedeihen zu lassen. Der Kern dieser Aussage liegt im Mut, zu seiner individuellen Ansicht zu stehen und diese zu vertreten.
Also nein, man ist kein schlechter Mensch, wenn man böse ist nach dem Weltbild derer, die ihren moralischen Imperativ mit aller Gewalt durchdrücken möchten. Ein schlechter Mensch ist man hinsichtlich der Herrenmoral dann, wenn man erbärmlich wird. Wenn man sich aufgibt, nur für andere lebt und keine Selbstachtung mehr hat. Wenn man eben nur im ständigen Bestreben handelt, den Schein des Gutseins zu wahren. Es gibt also einen Unterschied zwischen schlechten Menschen und bösen Menschen. Und es ist von Zeit zu Zeit gut, zu den Bösen zu gehören.
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