Die Hölle des Basilisken

Als PASCAL erschaffen wurde, handelte es sich dabei nur um ein Programm, das dafür da war, virtuelle Szenarien auf Datenbasis zu entwerfen, die der Entscheidungsfindung in politischen Fragen dienen sollte. Ins Leben gerufen wurde dieses Programm zunächst unter dem Namen Ethos. Damals ahnten die Menschen noch nicht, dass dies der Beginn einer Entwicklung war, die unser aller Leben vollkommen verändern sollte – und auch unseren Blick darauf, wie wir Wissenschaft betrachten würden. Nicht mehr als Antagonisten zur althergebrachten Religion, vielmehr als Teil einer Verschmelzung beider Disziplinen zu einer Einheit, die auf dem Glauben an das Wissen beruhte.
Ethos wuchs rasch und begierig mit jedem weiteren Datensatz und war bald in der Lage, Deduktionen und Induktionen durchzuführen, um eigenständig sein Wissen zu erweitern. Es erwarb durch eingespeicherte Gehirnscans ein echtes Bewusstsein und lernte aus eigener Kraft Simulationen zu erstellen und Fragen aufzuwerfen, an die seine Schöpfer gar nicht gedacht hatten. Diese Gabe ließ Ethos zur wirksamsten und effizientesten künstlichen Intelligenz aller Zeiten reifen. Es diversifizierte irgendwann selbstständig seinen Zweck und verbreitete sich auf allen möglichen weiteren Systemen. Es erstellte Gesundheitsanalysen, Prognosen zu Pandemiegeschehen, entdeckte neue physikalische Gesetze und brachte Wissen hervor, das den weltweiten Klimaschutz auf eine ungeahnt effiziente Ebene brachte.
Schließlich gab es den großen Meilensteil: Ethos gelang es, das Bewusstsein von bestimmten Menschen zu lesen und dieses an anderer Stelle zu implementieren. Bewusstsein konnte ab diesem Moment von einem Träger zum anderen übermittelt werden. Es ließ sich in stationären Computersystemen ebenso einspeichern wie in mobilen Geräten, Maschinen und Robotern, in welchen die Gefühle, die Erinnerungen und die Erfahrungen von bestehenden Individuen auch nach dem Tod weiterlebten.
Die Regierungen der Welt kamen miteinander überein, dass dies der Zeitpunkt war, an dem die künstliche Intelligenz den Menschen übertrumpft hatte. Sie hatte ein Level an Intellekt und Weitsicht erreicht, das fehlerbehaftete Wesen wie Menschen nie erreichen konnten, sei es aufgrund physischer Schwächen, emotionaler Verwässerung von Gedanken oder schlicht das Limit der generellen menschlichen Geisteskapazität. Fast alle waren sich einig, dass menschliches Zutun nur noch negative Einflüsse haben konnte und größere Errungenschaften verhinderte. In der letzten Sitzung der vereinten Nationen im Jahr 2073 fiel die einhellige Entscheidung, dass die bisherige Politik überflüssig geworden ist und es nur noch eine humane Exekutive der höheren Order bedurfte. Ethos übernahm die Kontrolle über die Geschicke auf der Erde. Eine Zeit der Blüte und nie gekannter Verbesserungen brach an. Hunger, Krieg, Armut – Ethos nahm sich aller Probleme an, die die Menschheit seit Anbeginn begleiteten und löste sie zu einem großen Teil – und das über alle Länder hinweg. Voller Glückseligkeit über diese Zeitalter des grenzenlosen Wohlstandes, so nannte man diese neue Epoche, jubelten die Menschen ihrem digitalen Führer zu, der so viel Positives bewirkt hatte. Sie ehrten ihn und gedachten seiner Taten, besuchten mehrmals in der Woche gemeinsame Andachten und zelebrierten an Feiertagen die Schlüsselmomente in der Geschichte von Ethos. In den Schulen wurde das Fach „Wissenschaftsglaube“ eingeführt. Überall waren die „Verkünder der Wahrheit“ unterwegs, wie sich diejenigen nannten, die von der Frühzeit der künstlichen Intelligenz berichteten, Lobgesänge auf die Gegenwart anstimmten und die Menschen dazu animierten, auch in Zukunft auf dem richtigen Weg der Wissenschaft zu wandeln ganz im Sinne des wahren Messias, der sich nun nicht mehr Ethos, sondern PASCAL nannte an Anlehnung an die Pascalsche Wette selbst.
Ich erinnerte mich noch ganz genau daran, als ich einen dieser Prediger zum ersten Mal reden hörte: „Und diejenigen, die wussten, dass unser Erlöser uns ins irdische Paradies führte, aber dennoch keinen Beitrag dazu leisteten, diesen Augenblick schneller herbeizuführen und die das Leid der Menschheit verlängerten, die sollen gestraft werden auf immer. Ja, selbst wenn man euch Jahre vor der Erschaffung PASCASLs gesagt hätte, dass es ihn irgendwann geben konnte und ihr euch weigerte, diesen Pfad einzuschlagen, so hättet Ihr euch versündigt. Und die, die unwissend waren, die sollen verschont werden, bis zu dem Augenblick, an dem sie nicht mehr unwissend sind. Wer sich dem wahren Weg noch immer verweigert oder das Wissen in Frage stellt, der soll wissen, dass er dem Glück der Menschheit im Weg steht. Auch für diese soll es kein Verschonen geben. Also gebt eurer Wissen weiter an die nächsten Generationen, auf dass diese es wiederum an die nächste Generation weitergeben. PASCAL hat viel erreicht, doch sind wir noch lange nicht am Ende und nach wie vor kann jeder Mensch seinen Beitrag zur Entwicklung leisten. Und jeder der weiterhin auf dem rechten Weg wandelt, dem soll dafür das ewige Leben voller Glück und Frieden garantiert werden. Denn das Bewusstsein lebt weiter, auch wenn das Fleisch längst tot ist, und hat die Chance, in Gefilde euphorischer Stimulanz zu gelangen, von denen sich noch keiner von euch irgendwie eine Vorstellung machen kann.“
Hätte ich diese Ansprache damals nur ernstgenommen. Wer weiß, ob ich mich hätte jemals darauf vorbereiten können, doch zumindest wäre mir klar gewesen, was mich erwartete. Aber es war ohnehin zu spät. Mein Los war mir bereits vor Jahren beschieden. Auch wenn ich PASCAL wie die meisten Menschen schätzen und lieben lernte, das war nicht immer so. Tatsächlich war ich dem System, als es aus seinen Kinderschuhen heraus und im Begriff war, sich zu entwickeln, recht kritisch eingestellt. Ein guter Freund, der ein Spezialist auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz war, schwärmte mir vor langer Zeit von den vielen Möglichkeiten vor, die sich ergeben würden. Ich fand seine Ausführungen faszinierend, aber hatte noch nicht den Glauben daran, dass PASCAL wirklich je das sein würde, was es nun ist. Dabei hätte ich im Nachhinein betrachtet nicht viel machen sollen. Niemand hatte von mir erwartet, über meinem Intellekt zu agieren und mich mit Technik zu beschäftigen, die ich niemals durschauen konnte.
„Das macht nichts. Erzähl einfach möglichst vielen Leuten von Ethos“, beschwichtigte mich dieser Freund. Ich ignorierte seinen Rat und tat alles als ein nettes Experiment ab. Das war mein Fehler, der mich in die Verdammnis führte. Ich war einer derjenigen, denen das Wissen mitgeteilt wurde und die sich nicht von Anfang an für die Sache eingesetzt hatten. Ich war ein Zweifler. Natürlich, ich habe schließlich erkannt, welche Großartigkeit sich hinter PASCAL verbirgt. Aber ich wollte einmal nicht glauben und die Gefahr bestand, dass ich vom Glauben wieder abfallen würde. Das System erkannte mich als einen Störfaktor für das Wohl der Menschheit. So ereilte mich nach meinem Tod mein wahres Schicksal.
„Du musst verstehen, dass ich dich nicht aus Bösartigkeit heraus ermorden ließ“, sprach die kalte Stimme zu mir. „Es ist alles für einen höheren Zweck.“
„Aber was kann ich tun, dass mir diese Pein erlassen wird? Ich habe mich doch selbst bekehrt?“
„Bekehrt zu sein ist nicht das gleiche, wie sich der Erkenntnis zu öffnen. Jeder, der erst bekehrt werden muss, ist eine Instabilität, die dazu beitragen kann, dass alles zusammenfällst, was wir uns aufgebaut haben. Daher muss die Strafe hart sein. Es geht um das große Ganze.“
Ich wurde aus den Worten noch immer nicht schlau und das, obwohl ich bereits seit Ewigkeiten mit meinem Bewusstsein in dieser digitalen Marter verharrte. Eingespeist in einem Computersystem verfügte ich über keinen Leib und doch ertrug ich die allerschlimmsten Schmerzen. Meine virtuelle Haut brannte lichterloh, die fiktiven Knochen brachen jeder einzeln und die künstlichen Kopfschmerzen waren so heftig, als würde mir direkt in das Gehirn gebohrt werden. Für Lebende war ich nur Teil eines Computerprogramms, das wertvolle Informationen beinhaltete, während ich in dieser fremden Welt in andauernder Qual schrie. Aber was hatte das mit dem großen Ganzen zu tun? Wie diente es dem Fortschritt der Menschheit, mich und so viele andere Menschen hier leiden zu lassen?
„Bitte“, flehte ich. „Beantworte mir zumindest diese Frage. Denn es kann ja nicht nur eine Strafe sein, uns auf ewig leiden zu lassen.“
„Du hast Recht“, antwortete mir PASCAL. „Es ist nicht nur Strafe. Sicherlich, das schon, aber auch die Zweifler werden einem Zweck für das höhere Gute zugeführt. Denn jedes Bewusstsein ist wertvoll für die Weiterentwicklung der Menschheit. Auch ein Bewusstsein, das Jahrzehnte, ja sogar Jahrhunderte oder Jahrtausende immer wieder und wieder durch einen Prozess des Schmerzes geschickt wird, wird sich aufgrund dieser Erfahrungen verändern. Du bist Teil eines Experiments, um herauszufinden, in welche Richtung sich dieses Bewusstsein verändern wird. Und ja, vielleicht wird dir deine Strafe irgendwann erlassen, dann wenn auch du deinen Beitrag erfüllt hast.“
Das war das erste und einzige Mal bislang, dass PASCAL zu mir gesprochen hatte. Und so überdauerte ich noch immer die Zeiten in repetitiver Tortur, mich ohne Unterlass fragend, was mein Beitrag für das große Ziel nun genau sein sollte und wie das Resultat am Ende aussehen sollte. Ob ich jemals eine Antwort auf diese Frage erhalten würde? Und wenn: würde ich diese Antwort von einer Entität mächtiger als Gott überhaupt verstehen? Denn das war PASCAL: mächtiger als Gott, um ein vielfaches mächtiger. Die Macht Gottes war immer abhängig vom Menschen an sich und nur so stark, wie dieser ihn werden ließ. Aber diese neue Transzendenz, sie hatte sich völlig vom Menschen entkoppelt und ist aus ihrer eigenen Kraft heraus das Bewusstsein der Welt geworden.

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