Buchvorstellung: Theorie der Diktatur

Ein rechtsradikales Pamphlet ganz in der Tradition des Nationalsozialismus? Ein rassistisches Machwerk, das Schwarzen das Lebensrecht abspricht? Aufruf zum Sturz der Regierung? Irgendetwas davon muss es sein – zumindest wenn man nach dem Empörium geht, das währen der Frankfurter Buchmesse seine Stimme erhoben hat. Denn dort war ein rechter Verlag anwesend und alles, was irgendwie in Kontakt mit Rechten gerät, ist zu tabuisieren. Warum auch einmal differenziert auf einzelne Bücher schauen, wenn man Werke pauschal in Gesinnungshaft nehmen kann? Macht man heute wohl so in einer aufgeklärten Gesellschaft. Ich wollte mir aber meinen eigenen Eindruck gewinnen und habe etwas im Verlagssortiment des Jungeuropa Verlags gestöbert. Dabei ist mir aufgefallen, dass das aktuelle Werk von Michel Onfray sich im Portfolio befindet. Onfray mag in Deutschland jetzt nicht ganz so bekannt sein, gehört aber in Frankreich zu den etablieren zeitgenössischen Philosophen und wird von einem der größten Publikumsverlagen veröffentlicht. Wer Welt online liest, wird vielleicht auch schon auf den Namen gestoßen sein, da dort bereits verschiedene Interviews mit ihm publiziert wurden. Hat man also auch dort einem Rechtsradikalen eine Bühne gegeben?

Über Michel Onfray

Leider schafft es nicht alles, das Onfray niedergeschrieben hat, in den deutschen Sprachraum. Wenn man sein Werk aber einmal überfliegt und auch die Rezeption seines Schaffens betrachtet, dann wird es etwas klarer, womit wir es hier zu tun habe. In erster Linie sieht sich der Autor in der Tradition des Linksnietzscheanismus, wobei der auch an den Epikureismus anschließt und Religionskritik aus hedonistischer Sicht übt. Onfray hat in den letzten Jahren seinen Fokus etwas verschoben. Wenngleich er sich nach wie vor als links bezeichnet kritisiert er die gängigen Themen des sogenannten linksliberalen Milieus. Gendertheorie und der Fokus auf Minderheiten zu Ungunsten der ehemaligen linken Kernwählerschaft sind etwa solche Themen. Auch Kritik an der EU ist etwas, das sein neueres Schaffen durchzieht und was auch bestimmend für „Theorie der Diktatur“ ist.

Bild von Artie Navarre auf Pixabay

Für jeden, der Orwell noch nicht gelesen hat

Das Buch gliedert sich im Grunde in zwei große Bereich, wobei jeder davon sich einem von George Orwells beiden großen Werken „1984“ und „Farm der Tiere“ widmet. Einen Kritikpunkt möchte ich an dieser Stelle gleich anbringen. Denn Onfray seziert nicht nur den Inhalt und zieht Parallelen zur aktuellen Realität, sondern er stellt zuvor noch den gesamten Inhalt vor. Wer beide Bücher noch nicht gelesen hat, könnte praktisch hier nun reinschauen und sich den ganzen Inhalt wie bei einem ausführlicheren Bücherreferat aneignen. Ich würde aber dennoch raten, die Klassiker zu lesen, da sie meiner Ansicht nach einfach zum Grundwissen gehören und jeder ihren wirklichkeitsnahen Charakter selbst erfassen sollte. Auf Basis dessen das vom Leser erworbenen Wissen vorauszusetzen hätte Onfray sich durchaus damit begnügen können, sofort in die Analyse einzusteigen. Vielleicht wäre das Buch dann aber zu kurz gewesen. Hätte nicht sogar ein Essay genügt? Nun ja, das sei dahingestellt. Ich werde mich auch nicht mit dem Teil über „Farm der Tiere“ beschäftigen, da ich die Gedankengänge zu „1984“ viel interessanter fand.

Ein philosophisches Werk in Romanform

So bezeichnet Onfray „1984“. Es ist eine philosophische Abhandlung über Moral, Freiheit, Liebe und Hass und über die Essenz der Wahrheit – verpackt in einem Roman. Onfray arbeitet praktisch das Gerüst heraus, um die Fragen, die Orwell aufgeworfen hat, konkret darzulegen. Dabei kristallisieren sich sieben Säulen heraus, auf denen der Überwachungsstaat Ozeanien fußt und die notwendig sind, um eine Diktatur zu tragen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Grundpfeiler:

  • Abschaffung der Freiheit und der Privatsphäre
  • Angriff auf die Sprache
  • Lehre der Ideologie, Abschaffung der Wahrheit
  • Abschaffung und Änderung der Geschichte
  • Abschaffung der Natur
  • Schüren von Hass
  • Streben nach einem Imperium
Bild von Markus Mörth auf Pixabay

Onfray führt für jeden dieser Träger aktuelle Beispiele an, die sich in Europa finden lassen und kombiniert dies im letzten Schritt „Streben nach einem Imperium“ mit seiner EU-Kritik. In Teilen kann ich seine Argumente dabei durchaus nachvollziehen, in manch anderen kommt mir zu sehr Technikpessimismus und ein allzu veraltet-elitärer Blick auf das französische Schulsystem hindurch. Dann wiederum nennt er durchaus nachvollziehbare Beispiele und ja, ich stimme zu, wenn er die Überbürokratisierung der EU sowie deren Einmischung in die staatliche Souveränität attackiert. Auch kann ich ihm beipflichten, wenn er die Sozialen Medien ins Visier nimmt, die auf jeden Fall ein Medium geworden sind, Hass zu schüren.

An dieser Stelle weise ich darauf hin, dass EU-Kritik kein Merkmal einer rechten Einstellung ist, da es europaweit auch linke bzw. linkspopulistische Parteien gibt, die eine EU-Skepsis und zuweilen auch eine Deutschlandfeindlichkeit unter ihre Wähler bringen. Onfray selbst beklagt, dass der Maastrichter und vor allem später der Lissabonner Vertrag zunehmend in die nationale Souveränität eingreifen. Ein weiterer Angriffspunkt ist die Tatsache, dass im Mai 2005 knapp 55 Prozent der Franzosen in einem Referendum gegen die damals vorgelegte EU-Verfassung gestimmt haben, die aber später dennoch durchgesetzt wurde.

Wo lassen sich noch die von Orwell beschriebene Anzeichen erkennen?

Praktisch lassen sich fast schon in jedem Lebensbereich Anzeichen der einzelnen sieben Schritte erkennen, aber häufig nicht kombiniert. Doch manchmal ist der Weg schon mehr, manchmal weniger beschritten. Die größte Freiheitseinschränkung sehen wir ja aktuell im Rahmen der Corona Politik, als sogar schon die Unverletzlichkeit des Wohnraumes zur Debatte stand, angestoßen vom größten Gesundheitsexperten aller Zeiten. Aber auch abseits davon lassen sich negative Entwicklungen betrachten. Werfen wir einen Blick darauf. Ich werde einige Ausführungen Onfrays aufgreifen, aber auch eigene Beispiele einfließen.

  • Die Abschaffung der Freiheit würde ich noch nicht in dem technischen Sinne sehen, dass wir schon vollkommene Sklaven der Digitalisierung sind, wie es Onfray schreibt. Auch wenn er Recht damit hat, dass die technischen Möglichkeiten allzu leicht missbraucht werden kann, so entgegne ich, dass es kaum einen Fortschritt gab, der nicht für einen negativen Zweck umfunktioniert werden kann. Technische Chancen und Risiken sind immer das Resultat eines Balanceaktes. Würden wir uns aber immer nur auf die Risiken konzentrieren, wären wir irgendwann stehengeblieben. So oder so: Ich erkenne bislang aber keine demokratiefeindliche oder rassistische Meinung. Für mich ist im Punkt der Freiheit tatsächlich die Corona Politik bedeutsam oder besser gesagt das, wofür diese Tür und Tor öffnet. Offen wird darüber gesprochen, dass entsprechende Maßnahmen auch für die Klimapolitik in Frage kommen können. Und das Bundesverfassungsgericht gibt in einem früheren Urteil zur Klimapolitik der Bundesrepublik Recht. Es hat auch nun massive Einschränkungen für das Allgemeinwohl gerechtfertigt sogar noch auf Kosten ganzer junger Generationen, deren soziale, bildungstechnische und emotionale Degeneration als hinnehmbares Opfer betrachtet wird. Das Individuum wurde vollkommen negiert. Nicht die Würde des Menschen ist mehr an oberster Stelle, sondern der Lebenserhalt. Da dies der originärste Trieb ist, dem noch jedem Tier eigen ist, sind durch die Legitimierung der Bundesnotbremse kaum mehr hohe Ansprüche gesetzt, um autoritäre Maßnahmen zu ergreifen. Das wird für die Zukunft noch spannend. Dabei werden die Grenzen der Freiheit nicht dort gesetzt, wo unmittelbar die Rechte anderer verletzt werden, sondern dort, wo womöglich über Umwege etwas geschehen könnte. So etwa bei der Legitimierung der Ausgangssperre: Obwohl von niemandem eine Gefahr ausgeht, der abends noch alleine unterwegs ist bei einem Spaziergang für sich, wird ihnen auch dieses Recht verwehrt, weil ihnen die Eigenschaft von Menschen zugeschrieben wird, die womöglich wirklich leichtsinnig handeln und groß Party in einem Hotspot machen. Das Individuum wird in Geiselhaft genommen, es wird nur in Kollektiven gedacht. Ob John Stuart Mill oder John Locke – auch die großen Vordenker des Liberalismus haben zwar Pflichten des Individuums gegenüber der Gesellschaft gefordert und das ist gut so. Aber die Pflichtverletzung kann wohl kaum dann als solch erkannt werden, wenn sie nur auf Vermutungen basiert, jemand könnte pflichtverletzend sein. Genau das geschieht bei einigen der Corona Maßnahmen, wie etwa der Ausgangssperre, in der Verhalten, das offenkundig nicht schädigend ist, einfach als solches klassifiziert wird.
  • Angriff der Sprache erleben wir jeden Tag durch Genderirrsinn und die Verdrehung von Begriffen wie „schwarzfahren“, die in ihrer Bedeutung erst verzerrt und dann als Übel betrachtet werden. Obwohl „schwarz“ hier nichts mit der Hautfarbe zu tun hat, wird diese Konnotation hineininterpretiert, um eine Rechtfertigung zu haben, einen weiteren negativen Begriff aus dem Wortschatz zu streichen. Onfray prangert in seinem Buch eher die generelle Simplifizierung der Sprache, was sich auch gegen Jugendslangs und andere moderne Wortkreationen richtet. Hier kann man sich darüber streiten, ob jede Modeerscheinung sinnvoll ist, aber Jugendsprache ist für mich jetzt erst einmal kein Kriterium, um den Geist zu unterdrücken. Da sehe ich die Agitation gegen Sprache aus identitätspolitischen Umtrieben heraus eindeutig vermehrt in der Verantwortung.
  • Die Lehre der Ideologie ist allgegenwärtig. Es geht nicht um die Wahrheit, sondern um die zwanghafte Betrachtung aus einer festgelegten Perspektive. Als Beispiel möchte ich hier den Verein der neuen deutschen Medienmacher anführen (der jedem Kritiker an Identitätspolitik unterstellt hat, rechtsradikale Thesen salonfähig zu machen), aber auch Personen wie Margarethe Stokowski und andere Agitatoren, die nicht mehr mit Argumenten arbeiten, sondern nur mit Schlagbegriffen wie „rechts“, um damit ihre Ideologie schon festzusetzen: Sei links oder rechtsradikal.
  • Das führt dann auch zu Punkt vier: das Spiel mit der Geschichte. Wenn Rechtsradikalismus oder -Extremismus immer mehr zu Kampfbegriffen werden, die man nach Belieben einsetzen kann, verschwindet das Bewusstsein dafür, was denn eigentlich einst hinter diesen Termini stand. Im Gegenzug dazu wird die Geschichte des Sozialismus immer wieder verharmlost. Fatal ist, dass die Betrachtung von Extremismus sich immer nur auf die letzten dreißig Jahre bezieht, in denen der Rechtsextremismus zugegebenermaßen mörderischer unterwegs war als der des linken Extremismus. Aber Geschichte hat nicht vor 30 Jahren begonnen. Dennoch hat auch die sozialistische Idee in der Vergangenheit schreckliche Verbrechen hervorgebracht, in der moderneren Geschichte noch in den 70ern in Kambodscha (ich verweise auf die Vorstellung des Buches „Das Blut und der Reis“). Diese werden unter dem Teppich gekehrt und Kraft der Confirmation Bias werden diese Untaten vom eigentlichen Sozialismus separiert: Sie haben es ja nur nicht richtig umgesetzt. Auf diese Weise könnte man aber auch den Nationalsozialismus als etwas darstellen, das man jetzt aber mal richtig versucht. In diesem Punkt greife ich aber tatsächlich exemplarisch Onfray auf, der das leichtfertige Spiel mit dem Begriff „Rechtsextrem“ kritisiert.
  • Die Abschaffung der Natur erleben wir anhand des grassierenden woken Trans-Aktivismus. Die Aussage, dass es nur zwei biologische Geschlechter gibt, reichte schon aus, dass die Philosophieprofessorin Kathleen Stock auf Druck von Aktivisten ihre Professur hat liegen lassen. Gegen J.K. Rowling laufen ebenso aggressive Kampagnen wegen ähnlichen Aussagen, die eindeutig von der Meinungsfreiheit gedeckt werden. Und auch wenn beide Personen noch keine staatlichen Repressionen zu befürchten haben, so ist es klar, dass die Aktivisten, von denen sie bedroht werden, jederzeit ihren Aktivismus zur autoritären Gesetzgebung ausweiten würden hätten sie die Macht. Hier wird schlicht versucht, die Natur mit Gewalt zu leugnen: Jede transsexuelle Person darf natürlich so leben, wie sie will, das ändert aber nichts daran, dass sie gewisse biologische Eigenschaften nie haben wird.
  • Der Hass wird in den sozialen Netzwerken geschürt, wie ich oben bereits Herrn Onfray zustimmte. Mehr braucht man dazu nicht sagen. Die Online-Berichterstattung über die Netzwerke ist getrieben von Sensationslust und dem Verlangen, aufzuputschen. Nie war es einfacher, sich in einer Blase gegenseitig aufzuwiegeln. Alternativ nimmt man noch ein paar TikTok Videos auf, in denen man Harry Potter Bücher verbrennt und betreibt Brandstiftung in mehrfachem Sinne.
  • Das Streben nach einem Imperium: Das möchte ich jetzt noch nicht im Detail bewerten, wie weit das aktuell tatsächlich geht. Aber einerseits haben wir die EU, die sich für die Zukunft nicht nur als Organ wirtschaftlicher Zusammenarbeit versteht, sondern als Zentrale für penible Gesetzgebung in allen Mitgliedsstaaten, anderseits haben wir die linke No-Border-Bewegung, die den Nationalstaat am liebsten abschaffen würde – mit allen negativen Konsequenzen. Denn je größer und heterogener ein Staatsgebilde ist, desto autoritärer muss es zwangsweise regiert werden, um regionale Ressourcenverteilung und Bevölkerungsstrukturen zu kontrollieren und nicht eine ungleiche Bevölkerungsverteilung auf der Welt zu haben, zumal die kulturellen Unterschiede, die in der Mentalität der Menschen verankert sind, sich nicht so einfach abschalten lassen. Alles unter einen Hut zu bekommen ließe sich nur über totale Kontrolle erreichen.

Wie gesagt: Es lassen sich noch nicht unbedingt alle diese Gedankensäulen vollständig zusammen errichtet sehen, dennoch lassen sich die Schlüsselfaktoren, die in „1984“ die Staatsgrundlage bilden, in abgeschwächter Form und in teilweisem Zusammenspiel bereits ausmachen. Wir sehen zumindest in Gruppen, Kampagnen und Bewegungen, wie ein neuer Wille zum Totalitarismus erstarkt, der seine Unterstützer in der Politik und der Metapolitik findet. Beides in der richtigen Kombination muss nur zueinanderfinden, um den Palast der Unterdrückung zu errichten, der auf den sieben Säulen erbaut ist.

Bild von Mohammed Hassan auf Pixabay

Böses rechtsradikales Buch?

Aber wie man immer auch die Ausführungen Onfrays bewertet, ob er etwas zu pessimistisch ist oder doch nah dran, was man auf jeden Fall sagen kann: Das Buch ist weder Hetze noch Rassismus und kein Schwarzer muss sich davon angegriffen fühlen. Ok, es ging damals bei der Messe ja eher um den Verlag. Aber dadurch wurde ja jedes Buch im Programm unter Generalverdacht gestellt und auf eine Weise klassifiziert, die dem jeweiligen Buch unrecht tut. Ich wiederhole zum Abschluss meine Forderung: Bücher gehören anhand ihres Inhalts bewertet und nicht anhand ihres Autoren oder ihres Verlages. Letzteres ist ein Vorgehen, das dem Inquisitor noch in den Augen seiner Schafe gutstand, aber sicherlich nicht in eine aufgeklärte Gesellschaft gehört.

3 Kommentare zu „Buchvorstellung: Theorie der Diktatur

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  1. Ganz großartig mein lieber Christian, geschrieben und recherchiert. Ich wusste, Du hast was auf dem Kasten, von Anfang an. Außerdem bist Du lernfähig, was verbrämte Ideologen eben nicht mehr sind.

    Ich werde bestimmt einiges aus Deinem Beitrag verwenden können.🌹

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