Maschine aus Fleisch

Felix war tot. Ich konnte es nicht fassen. Die Nachricht erwischte mich wie ein lähmender Hammerschlag, sodass ich mich hinsetzen musste, bevor meine erschlaffenden Beine unter meinem Gewicht nachgaben. Es ergab keinen Sinn. Vor allem konnte ich den Grund seines Ablebens nicht glauben: Selbstmord. Mein Freund hatte sich von einem Hochhaus gestürzt, mitten im Stadtzentrum, wo sein Ende scheinbar ein großes Publikum gefunden hatte.
Es war seine Schwester Lisa, die mich über die Tragödie informierte. Als ich ihre gebrochene, von Jammer verzerrte Stimme am Telefon vernahm, ahnte ich bereits, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste. Doch niemals hätte ich damit gerechnet, dass man mir die Botschaft vom Freitod des Menschen überbringt, der mir in meinem Leben stets am nähesten war. Wir redeten nicht lange miteinander. Dazu hatte auch keiner von uns die Kraft. Desillusioniert verharrte ich an Ort und Stelle. Es heißt, dass die Augen das Tor zur Seele wären. Wenn dem so wäre, dann müssten meine Augen in diesem Moment glasig-leer gewesen sein, fühlte ich mich doch, als wäre mir ein riesiges Stück meiner Seele aus dem Leib gerissen worden. Hätte mich irgendwer in diesem Zustand erlebt, hätte er mich wohl in einem Komazustand gewähnt. Unfähig zur Bewegung war ich, dafür tobte in meinem Kopf ein Sturm. Immer wenn ich versuchte, eine logische Erklärung zu finden, wie es zu diesem Geschehnis kam, wurde der Gedanke fortgeweht und der nächste glitt hinein. Der wiederum flog sogleich weiter und die nächsten Fetzen trudelten in einem wilden Reigen umher. Somit war ich außer Stande, auch nur annährend stringent zu denken. Aber zu welchem Schluss ich auch gekommen wäre, keiner könnte plausibel erscheinen.
Felix war seit jeher ein sehr lebensfroher Junge und später ein ebenso gesinnter Mann gewesen. Er war beruflich erfolgreich und stand fest gesattelt im Leben. Nur in der Liebe hat es von Zeit zu Zeit gehapert, doch hatte er nie den Eindruck erweckt, als wäre eine Frau etwas, das er wirklich in seinem Leben missen würde – zumindest nicht in der Form, dass er sein Glück derartig davon abhängig machen würde, dass nur der Tod ihn in schopenhauerischer Manier von seinem nicht erreichbaren Begehren befreien könnte. Was also war es, das ihn zu dieser Handlung getrieben hat?
Es war gerade einmal fünf Tage her, dass wir uns zuletzt gesehen hatten. Wir unterhielten uns, tranken zusammen, verbrachten eine gute Zeit. Nichts schien darauf hinzuweisen, dass mein Freund an einer Depression litt oder sonst ein Schatten auf seinem Gemüt lag. Wieso habe ich es nicht gemerkt? Ich war sein bester Freund. Ich hätte etwas erkennen müssen, nach Jahrzehnten der Freundschaft. War ich so vernebelt, so voll des Rausches der Selbstverständlichkeit, einen guten Freund um mich zu haben, dass ich nicht mal erkennen konnte, dass es diesem Freund schlecht ging. Oder hatte Felix es tatsächlich so unvergleichlich gut verstanden, seine Dämonen mit einer Maske aus vorgegaukelter Lebenslust und oberflächlicher Lässigkeit zu verbergen?
Fürs erste konnte ich mich zu nichts mehr aufraffen. Ich kauerte noch gefühlte Stunden in meinem Elend, bis ich mich dazu bewegen konnte, zumindest ins Bett zu gehen. Wie zu erwarten fand ich nur wenig Schlaf. Ewig wälzte ich mich aufgewühlt umher, bis die Übermüdung mich letztendlich dazu zwang, das Minimum an Ruhe zu finden. Vielleicht für vier Stunden, eventuell wachte ich dazwischen in kleinen Intervallen auf und nickte wieder weg, nur um wieder einzuschlafen und mich sogleich erneut aus dem Schlummer zu reisen. Vielleicht waren die kurzen Wachphasen auch Träume. Meine Wahrnehmung dafür war hinüber.
Ich öffnete schließlich irgendwann meine Augen und die Sonne streckte bereits ihre Finger über den Horizont. Das Licht brannte. Ich vergrub mich unter meine Decke, um dem Schein zu entkommen und lag noch eine gute Zeit da, eingeigelt in meinem Kokon, in dem ich mich von der Tragik des Lebens abschirmen wollte. Was hätte ich auch zu tun gehabt? Mein bester Freund ist gestorben und jeder Versuch, mir irgendwie die Zeit zu vertreiben, wäre mir wie Hohn an sein Andenken vorgekommen. Zum Glück war Sonntag, sodass ich keinen Anlass hatte, mich bei meiner Arbeit für mein Fernbleiben zu rechtfertigen. Anderseits konnte ich auch nicht dauerhaft liegen bleiben, um im Sumpf des selbstmitleidigen Müßiggangs zu versinken. Was mir doch noch den Schub verschaffte, mich zu erheben, war mein Wille, herauszufinden, was mit Felix geschehen war. Ich wollte erfahren, was ihn zu seiner Tat getrieben hat. Diesbezüglich war seine Schwester die einzige Person, die mir weiterhelfen konnte. Vielleicht noch seine Eltern, aber die waren mir gegenüber immer recht verschlossen, wobei ich nicht sagen konnte, woher ihre Aversion mir gegenüber herrührte. Lisa und Felix deuteten einmal etwas in der Richtung an, dass ihre Eltern mich für eingebildet hielten, konnten mir aber nie ein Beispiel dafür nennen, wann ich ein entsprechendes Verhalten an den Tag gelegt hätte. So oder so: Wenn ich Informationen sammeln wollte, war die Familie Hagedorn mein einziger Anhaltspunkt.
Allerdings war mir klar, dass die Familie nun sehr schweren emotionalen Ballast mit sich schleppten, als dass sie sich nun noch meinem Anliegen zuwenden konnte, ganz zu schweigen von der Planung der Beerdigung und anderen Formalitäten. Ich kam zu dem Entschluss, dass für einen Besuch noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen wäre. Zumindest wollte ich Lisa aber eine kleine Nachricht am Handy hinterlassen und dezent anfragen, ob es rudimentäre Anhaltspunkte für Gründe des Selbstmordes gäbe. Die Antwort war ein schlichtes „Nein“. Eine halbe Stunde später folgte „Lass uns darüber nach der Beerdigung sprechen“.
Das Begräbnis erforderte von mir einiges an Überwindung, um ein Haar hätte ich nicht daran teilgenommen. Ein großer Sympathisant dieser gesellschaftlichen Konvention war ich ohnehin nie. Was bringt es dem Verstorbenen noch, an seinem Grab zu klagen? Felix könnte ich auch so gedenken, doch allein für Lisa ging ich hin. Es war eine kleine Zeremonie. Nur der allerengste Familienkreis und ein paar Freunde, von denen Felix ohnehin nicht so viele hatte, waren anwesend. Auf den Leichenschmaus verzichtete ich jedoch. Nach der Bestattung selbst passte ich Lisa auf ein Wort ab, um uns beiden gegenseitiges Beileid zuzusprechen. Auch wenn es noch immer nicht der beste Zeitpunkt gewesen ist, das heikle Thema anzuschneiden, stellte ich die Frage, ob es irgendetwas gäbe, was sich meinem Wissen entzog, ich aber noch erfahren sollte. Ein bisschen schmerzte es mich schon, dass ich die Frau damit behelligen musste, als ich ihr gegenüberstand. Bleich sah sie aus, als wäre sie als nächstes reif für einen Sarg gewesen. Umso mehr stachen ihre tränenunterlaufenen, brennend roten Augen hervor. Erstaunlicherweise war Lisa gesprächiger, als ich angenommen hatte.
„Es gab einen Abschiedsbrief“, erzählte sie mir, was augenblicklich meine Neugier noch weiter entfachte.
„Kann ich den Brief lesen?“, fragte ich, was Lisa verneinte.
„Meine Eltern haben den Brief. Sie geben ihn nicht heraus. Aber ich habe ihn auch gelesen. Ich kann dir sagen, was drinnen steht. Aber das ist nicht so ergiebig. Felix erzählt in dem Schreiben nur davon, dass sein Leben eine Sackgasse war und dass er kein Ziel mehr hat oder so…es war sehr merkwürdig. Ich…ich hatte keine Ahnung.“ Lisa schluckte schwer ihren Klos herunter, bevor sie die letzten zwei Worte über ihre Lippen brachte und erneut in Tränen ausbrach. Ich nahm sie in den Arm und versuchte sie so gut es ging, zu trösten, auch wenn mir bewusst war, dass ich nichts hätte anbieten können, was uns beiden irgendwie die Stimmung aufhellen konnte.
Die Informationen, die ich von Lisa erhalten hatte, machten die Angelegenheit noch diffuser. Felix sollte kein Ziel im Leben gehabt haben? Er war als Ingenieur bei einem bekannten IT-Unternehmen tätig und hatte dort eine respektable Karriere hingelegt. Nahm ihn der Umstand, dass er keine Partnerin fand, doch etwas mehr mit, als er anderen hatte teilhaben lassen? Oder stimmte doch mein erster Verdacht, dass er an einer Depression litt? Viele erfolgreiche Menschen, die diese Bürde mit sich trugen, sind letztendlich unter ihrer Last kollabiert, auch wenn es rational keine Veranlassung dazu gab. Keine finanziellen Probleme. Keine gesellschaftliche Isolierung. Man machte das, was einem Freude bereitete. Und dennoch gingen die Betroffenen zugrunde. Ich wollte mir jedoch nicht erlauben, diesbezüglich ein Urteil zu fällen. Angesichts dessen, da ich nie persönliche Erfahrungen in diese Richtung gemacht habe, käme mir dies etwas dreist vor. Aber etwas gab es, das meinem Freund belastete. Nur befürchtete ich, dass ich die Quelle nicht mehr ausfindig machen könnte.
Die nächsten Tage vergingen recht ereignislos. Immerhin hatte ich genug Energie, um mich auf die Arbeit zu zwingen und mein Leben nicht völlig schleifen zu lassen, wenngleich ich abseits meines Jobs nicht mehr tat, als mich wahlweise alleine zuhause zu verkriechen oder in irgendeiner Bar zu verweilen, um meinen Kummer in einem elegischen Rausch erträglicher zu machen. Dabei schwelgte ich in Erinnerungen und ließ ein paar der wertvollsten Momente, die ich mit Felix gemeinsam erlebte, Revue passieren. So in etwa ging es drei Wochen, in denen ich mich in einem Schwebezustand zwischen larmoyanter Lethargie und der Kraftanstrengung befand, den Alltag zu meistern.
Ich war halbwegs überrascht, als mich Lisa nach einiger Zeit telefonisch kontaktierte. Sie klang aufgeregt und sprach davon, dass sie mir etwas erzählen wollte, von irgendwas, das dabei helfen sollte, sich besser so fühlen. Wirklich durchblicken konnte ich am Telefon nicht, was sie mir mitteilen wollte. Doch ich willigte einem Treffen ein und so besuchte ich Lisa in ihrer Wohnung.
So richtig einschätzen konnte ich ihre Stimmung nicht. Sie wirkte zwar schon deutlich munterer und im Vergleich zur Beerdigung hatte ihr Teint wieder eine gesunde Farbe, aber sie war weit davon entfernt, einen aufrichtig fröhlichen Eindruck zu erwecken.
„Schön, dich zu sehen“, seufzte sie mir zu, während wir uns in die Arme fielen. Eindeutig versuchte sie, gefasst zu wirken, so klar und schwungvoll sie mich begrüßte. Aber mir konnte sie nichts vormachen. In dem kurzen Moment, in dem unsere Gesichter sich in direkter Nähe zueinander befanden, erschauderte ich im Anblick ihrer Augen, die entgegen ihrer Gestik noch trauriger wirkten als noch vor paar Wochen. Dieser erste Eindruck verhärtete sich im Verlauf unserer seichten Plauderei, in der wir über dies und jenes konversierten. Kraftvoll und ohne den krächzenden Unterton von tiefer Gram klang ihre Stimme in meinem Ohr, doch die Mimik der jungen Frau entlarvte ihr Schauspiel. Um den Kern dieser Unterhaltung nicht noch weiter heraus zu zögern, beschloss ich, direkt zu werden.
„Was ist los, Lisa?“, fragte ich sie. „Du wolltest mir doch etwas erzählen. Du sagtest etwas davon, dass wir uns besser fühlen können.“
Etwas schuldbewusst dreinblickend antwortete Lisa: „Entschuldigung. Du hast Recht. Ich fand es nur schön, dass wir uns mal wieder unterhalten konnten. Nach Felix Tod. Nun, das ist ja erst geschehen…ich denke auch, er hätte gewollte, dass wir weiterhin Kontakt halten.“
„Davon bin ich überzeugt“, entgegnete ich, pausierte kurz, um mir die Worte im Geiste zurechtzulegen und fuhr fort: „Aber was meinst du damit, dass wir uns besser fühlen können. Ich denke, der beste Weg ist doch dann der, unser Leben weiter zu leben, auch wenn es noch lange wehtut.“
„Es gibt einen anderen Weg“, antwortete Lisa. „Hast du schon einmal von dem Unternehmen Neurostream gehört?“
„Neurostream?“ Ich musste kurz überlegen, entsann mich aber an einen Zeitungsartikel, den ich vor geraumer Zeit gelesen hatte. Es handelte sich dabei um ein Neurotechnologieunternehmen, das im Bereich der virtuellen Realität tätig war, aber so richtig hatte ich das Unternehmenskonzept nicht mehr im Kopf. Ich dachte, dass es sich bei der Firma um ein typisches Start-up handelte, das erst groß gehyped wurde, nur um dann in der Versenkung zu verschwinden und als einziges Erbe enttäuschte Sponsoren und Anleger zu hinterlassen.
„Nun“, sagte ich. „Ich habe davon gehört. Weiß aber nicht, was es damit auf sich hat. Und was hat dieses Unternehmen damit zu tun? Stellen die keine VR-Produkte her?“
„Schon lange nicht mehr. Die Firma hat expandiert und ging in einen völlig neuen Bereich über. Virtuelle Realität kann nur eine Immersion erzeugen, die die Sinne betrifft, aber die Gefühle erreicht sie nur begrenzt.“
„Nun ja, ich kann mir vorstellen, dass es schon etwas anspannender ist, durch ein Geisterhaus zu rennen, wenn man sich mitten in dieser Umgebung befindet und nicht nur vor dem Monitor mitschaut.“
Lisa schüttelte abwertend den Kopf. „Oh damit hat das doch gar nichts zu tun. Zeig dich doch mal offener für die Möglichkeiten, die die Wissenschaft bietet.“
„Und was wären das für Möglichkeiten?“
„Neurostream bietet die Option, sich in ganz neue Gefühlswelten einzufinden. Du kannst dir andere Gefühle geben lassen und dich so fühlen, wie du willst, dich aber sonst eigentlich nicht fühlst.“
Ungläubig und fragend sah ich Lisa an. Dabei war ich noch immer über den Antagonismus irritiert, der zwischen dem, was und wie sie es sagte und dem Glanz in ihrer Iris herrschte. Vor allem war ich überrascht – oder besser gesagt entsetzt – darüber, was sie mir sagen wollte, von dem ich glaubte, dass sie es mir gleich darlegte. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein.
„Du fühlst dich traurig?“, fuhr sie fort. „Dann lass dich glücklich machen. Und das Beste ist. Es funktioniert.“
„Und was funktioniert genau?“
„Ich kann dir jetzt den wissenschaftlichen Hintergrund nicht erläutern. Aber es hat irgendwas damit zu tun, dass sie Hirnregionen stimulieren, um bestimmte Gefühle hervorzurufen. Und es klappt. Ich war jetzt schon paar Mal dort, immer dann, wenn ich zu traurig war. Und es hat geholfen. Ein bisschen Glücklichsein für mich.“
„Du siehst nicht glücklich aus.“ Vielleicht war meine Antwort etwas zu frei aus dem Mund heraus, aber ich sah keinen Sinn darin, Lisa in ihrem Irrsinn zu bestätigen – den genau das war es für mich, was sie mir eben offenbarte.
„Nun, kann sein, dass es langsam wieder nachlässt. Lange lässt sich das nicht aufrechterhalten. Aber deswegen gehe ich regelmäßig dorthin. Ich muss dann immer wieder mich an die Apparatur anschließen. Aber das geht schnell…und es kostet auch nicht so viel. Vielleicht willst du es auch mal versuchen?“
Allmählich gelange ich an die Grenze meines Taktgefühls. Ich hätte mit Lisa in Ruhe erörtern können, was an dem Konzept fatal war. Anstelle dessen wurde ich schroffer, als ich es beabsichtigte.
„Grundgütiger nein. Das ist das Fragwürdigste, von dem ich in letzter Zeit gehört hatte. Warum machst du so einen Unsinn?“
Dass das nicht die Reaktion war, mit der Lisa gerechnet hatte, war an ihren entglittenen Gesichtszügen deutlich sichtbar. Mir war bewusst, dass ich etwas zu harsch war und so zwang ich mich dazu, mich zu zügeln.
„Es tut mir Leid“, schob ich beschwichtigend nach. „Das kam jetzt etwas dumm.“
„Ich hätte schon mit etwas mehr Verständnis gerechnet. Ich meine. Klingt das nicht verlockend und gut?“
Verlockend klang es in der Tat. Da stimmte ich ihr zu. Aber gut? „Gut ist es meiner Meinung nach nicht“, sagte ich. „Das sind keine echten Gefühle. Das ist doch einfach alles Fake.“
„Und wenn schon“, parierte Lisa schnippisch. „Glaub nicht, ich bin mir dessen nicht bewusst. Ich bin kein Dummchen. Aber auch wenn diese Emotionen nur Täuschung sind, so lenken sie mich doch etwas ab. Wenn auch nur für einen Moment. Aber warum sollte ich mir nicht etwas Linderung verschaffen von meinem Kummer? Irgendwann werde ich über Felix hinwegkommen. Aber bis dahin sehe ich nicht, warum ich die Trauer um meinen Bruder von Zeit zu Zeit nicht etwas vergessen darf. Was spricht dagegen?“
Arme Lisa. Es war nicht so, dass ich kein Verständnis dafür hatte, dass sie solche Maßnahmen ergriff. Es war nur zu menschlich, den Schmerz auf einfache und schnelle Weise zu vertreiben. Doch manchmal musste man Schmerz durchleben, um größeren zu vermeiden. Das wussten bereits im antiken Griechenland die Stoiker und die Epikureer gleichermaßen.
Ich nahm Lisa freundschaftlich an der Hand und versuchte ihr so gut ich konnte, Mut zuzusprechen. „Ich verstehe dich. Aber wenn du den Schmerz künstlich vertreiben möchtest, dann schaffst du nur eine Illusion. Der Schmerz wird nie weggehen. Das, was Neurostream anbietet, mag erst einmal gut klingen, aber ich denke, dass wir nicht immer aus dem Schlechten noch das Gute ziehen sollten, sondern auch ein Auge dafür haben sollten, dass das vermeintlich Gute auch das Schlechte mit sich bringt. Der Schmerz über den Tod deines Bruders, meines Freundes…das ist natürlich und er verschwindet auch nur auf natürliche Weise mit der Zeit. Das tut er immer. Aber Taschenspielertricks gegen die Natur helfen da nicht. Ich muss auch damit klarkommen. Und ja, der Schmerz plagt mich ebenfalls. Ich rede also nicht vom hohen Ross herunter. Ich hoffe, du weißt was ich meine.“
Eine Träne rann über Lisas Wange. „Ich verstehe, was du meinst. Aber trotzdem. Ich denke, dass mir das Programm helfen kann. Da haben wir unsere eigenen Wege, damit umzugehen. Ich dachte nur, dass du dem Ganzen mal eine Chance geben möchtest. Es hätte Felix sicherlich gefreut. Er hat ja gewissermaßen daran mitgearbeitet.“
„Er hat was?“ Ich hätte nicht gewusst, was mich in dem Moment mehr überraschen hätte können.
„Er hat bei Neurostream gearbeitet“, wiederholte Lisa. „Als Ingenieur.“
Es war ein Rattenschwanz. Die nächste Information, die mir anstatt Aufklärung nur Verwirrung verschaffte.
„Felix hat doch als ein IT-Ingenieur gearbeitet.“
„Das stimmt. Aber er wurde entlassen. Und dann gab es die Ausschreibung bei Neurostream.“
„Und warum erfahre ich das erst jetzt? Warum hat mir nie jemand etwas davon erzählt?“
„Felix hat es niemandem erzählt, außer mir. Und das auch erst recht spät. Anfangs wollte er wohl nichts von dem Jobverlust sagen, weil er sich geschämt hat. Danach hat…keine Ahnung, warum er so ein Geheimnis gemacht hatte. Vielleicht hat er auch mit dem Gegenecho gerechnet, mit den moralischen Einwänden, wie die von dir. Und ich denke, er wollte er ein bisschen in die Firma hineinschnuppern, bevor er anderen davon erzählt. Allerdings gab es dann noch mehr Probleme…nun ja. Er wurde noch vor Ende der Probezeit wieder entlassen.“
Angesichts dieser neuen Erkenntnisse über das Leben meines Freundes, musste ich mich erst etwas sammeln. Aber nun ergab es doch etwas mehr Sinn. Zwei verlorene Jobs in kurzer Zeit. Dennoch fragte ich mich, warum er sich mir nicht anvertraut hatte.
„Also hattest du doch einen Verdacht, was der Grund für seinen Selbstmord sein könnte?“, frage ich Lisa. „Wenn du wusstest, was los war?“
Bedrückt senkte Lisa den Kopf. „Ja“, murmelte sie. „Aber ich habe dir das erst nur nicht gesagt, weil…ja, ich musste selbst erst einmal schauen, wie ich damit zurechtkommen sollte. Es tut mir Leid.“
Ich winkte ab und beschwichtigte sie, dass sie sich keine Vorwürfe machen sollte. Allerdings hatte sie mein Interesse an Neurostream geweckt.
„Er hat also bei Neurostream gearbeitet?“, fragte ich. „Was hat Felix dort genau gemacht?“
„Nun ja, er war Ingenieur. Was er halt schon immer war.“ Viel konnte mir Lisa nicht erzählen, nur ein paar Fetzen von dem, was Felix ihr zuteilwerden ließ. Sie sprach davon, wie mein Freund an Teilen von Apparaten mitwirkte, die die Gehirnströme von Menschen erkennen konnten. Über die Funktion der Maschinen konnte sie keine Auskunft erteilen. Ebenso wenig wusste sie darüber Bescheid, in welchem Umfang ihr Bruder an den Bau der Geräte beteiligt war. Begeistert über die Idee der Gefühlsmanipulation war ich noch immer nicht, aber ich wollte mir das Projekt nun doch einmal ansehen, was ich Lisa allerdings nicht wissen ließ. Wir unterhielten uns noch eine Weile. Schließlich verabschiedete mich.
„Überleg es dir noch einmal! Es hilft“, rief sie mir als Abschiedsgruß hinterher.
Ich bezweifelte nach wie vor, dass es mir helfen würde, mir temporäre positive Stimulanz zu verschaffen, doch es war meine schlichte Wissbegierde, die mich veranlasste, die Dienstleistung von Neurostream einmal anzutesten – auch wenn mir bewusst war, dass ich auf eine Masche hereingefallen bin. Lisa hatte genau gewusst, dass sie mich damit ködern konnte, als sie Felixs Beteiligung erwähnte.
Ich vereinbarte telefonisch einen Termin bei der lokalen Neurostream Niederlassung und fuhr eine Woche später hin. Früher ging es nicht, da bis dahin alles ausgebucht war. Auf der Fahrt dachte ich über all die Menschen nach, die sich aus Überzeugung an ihrer Gefühlswelt herumspielen ließen. Welche Schicksale standen dahinter, die sie veranlassten, sich auf diese Weise zu behelfen? Sicherlich. Todesfälle dürften einen nicht unerheblichen Teil ausmachen. Liebeskummer könnte auch ein relevanter Faktor sein. Einsame Menschen, die sich nach Gesellschaft sehnten, hätten einen Grund, sich der Illusion von Gemeinsamkeit hinzugeben. Oder man wollte auf einfach Weiser zumindest für einen Augenblick einer nagenden Angst entfliehen.
Ich erreichte die Neurostream-Niederlassung – ein modernes Gebäude in Trapezform, dessen Front nahezu komplett verglast war.
Nach der Anmeldung im Foyer, das etwas wie ein futuristisches Labor anmutetet und der Authentifizierung meiner Person wurde ich in einen Warteraum gebracht. Von dort führte mich eine Mitarbeiterin schließlich weiter in ein kleines Büro, wo mich ein schlaksiger Mann mit Rundbrille empfing.
„Guten Tag Herr Falk“, begrüßte mich der verschmitzt grinsende Mann. „Ich darf mich vorstellen. Mein Name ist Dr. Arnold Grünwald. Wie ich Ihrem Anmeldebogen entnehme, beanspruchen Sie unsere Dienste zum ersten Mal? Ist das korrekt?“
„Das ist korrekt“, antwortete ich.
„Das ist sehr gut. Wissen Sie. Wir möchten, wenn jemand zum ersten Mal Neurostream nutzt, erst einmal alles abklären, um sicher zu gehen, dass jeder unserer Kunden weiß, worauf er sich einlässt.
„Ein bisschen bin ich ja in Bilde“, gab ich zur Antwort. „Wissen Sie. Eine Freundin hat mir Sie empfohlen.“
„Das ist sehr gut. Wir freuen uns immer über rege Mundpropaganda. Aber bevor wir Sie in den Auditionsraum bringen, wissen Sie, was hinter dem Verfahren steckt?“
„Nicht so richtig. Könnten Sie mir die Grundzüge bitte erklären?“
„Gehen wir ins Detail, könnte ich natürlich noch morgen darüber berichten. Das Gehirn ist eine komplexe Angelegenheit und noch immer nicht vollständig erforscht. Für unsere Zwecke sollten Sie nur wissen, dass Gefühle im limbischen System entstehen. Soweit befinden wir uns noch im Unterbewusstsein. Erst die Gehirnrinde, der sogenannte Cortex macht diese Gefühle bewusst. Welche Emotionen dabei entstehen, hängt maßgeblich von dem Bereich des Cortex ab, der angesprochen wird. Trauer, Hass, Freude und so weiter. Da gibt es Unterschiede. An der Stelle möchte ich auch darauf hinweisen, dass es Differenzen zwischen den Begriffen Gefühle und Emotionen gibt, die in der Alltagssprache aber natürlich synonym verwendet werden. Gefühle sind jedoch nur Teil einer Emotion, die sich eben aus einem Gefühl, aber auch Denkprozessen und körperlichen Reaktionen zusammensetzt. Ein Beispiel: Sie haben Angst. Das ist das Gefühl. Sie fangen an, zu Schwitzen, was die körperliche Reaktion ist und Sie kommen in die Situation, in der Sie eine Entscheidung treffen. Gehen wir davon aus, dass Sie zum Beispiel einem wilden Tier gegenüberstehen und eine Entscheidung treffen müssen, wie Sie am besten handeln. Da entsteht die Emotion aus den genannten drei Faktoren. Wir wenden uns bei Neurostream direkt an das Gefühl, den elementarsten Faktor. Wir haben es geschafft, in Teilen das Gehirn zu scannen und die Bereiche herauszufinden, wo welches Gefühl genau stimuliert wird. Diese Scans sind in einem Computerprogramm gespeichert, das wir mit Sensoren verbinden, die an den Menschen angelegt werden. Wir können damit also einen Impuls senden, der von den Scans ausgeht und sich über die Sensoren auf das Gehirn der angeschlossenen Person überträgt – und damit im ersten Schritt Gefühle weckt, aber auch ganze Emotionen anstößt. Das Beste daran ist: Da wir die Impulse über exakte Scans von individuellen Gehirnen haben, können wir nicht nur allgemeine Gefühle wie Freude wecken, wir können spezielle Verbindungen herstellen und den Gefühlsimpuls mit fingierten Erinnerungen einhergehen lassen. Sie sehnen sich danach, von Ihrem Lieblingsstar geliebt zu werden? Nun, das können wir Ihnen verschaffen…sofern wir halt einen entsprechenden Gehirnscan haben. Natürlich ist die Datenbank noch überschaubar, aber sie wächst stetig. Das ist ein Meilenstein in der Neurowissenschaft.“
Fasziniert lauschte ich den Ausführungen des Doktors, der mit jedem weiterem Satz, den er von sich gab, noch euphorischer wirkte und fast schon mit den Qualitäten eines Vertriebsprofis parlierte. Auch wenn ich nach wie vor eine ausgeprägte Aversion gegen das Konzept hegte und es mir geradezu den Magen umdrehte, als ich der Erklärung lauschte, so kam ich gleichzeitig nicht darum herum, dem menschlichen Geist Respekt zu zollen. Mag das, was Neurostream bewerkstelligte, von meiner Warte aus ethisch zweifelhaft sein, so konnte ich durchaus anerkennen, dass es eine überragende Intelligenz benötigte, um so weit in die Mysterien des Gehirns vorzudringen.
Der Doktor fragte mich: „Haben Sie bis dahin noch Fragen? Ich nehme mir gerne die Zeit, noch tiefer zu erklären.“
Ich lehnte dankend ab. Dann kam einer der Mitarbeiter herein und bat mich, ihm zu folgen. Der Doktor nickte mir zufrieden zu, als ich aufstand. Irgendetwas mochte ich an seinem gefälligen Blick nicht. Ich folgte dem Angestellten durch die klinisch kahlen Flure in das Obergeschoss hinauf in einen unverglasten Bereich des Komplexes. Wir durchschritten eine Art Schleuse und betraten einen schwarzen dreieckigen Gang. Mondän beleuchtet wurde der Durchweg von künstlich-weißem Neonlicht, das von vier Bögen ausging, die sich jeweils an den nach oben zulaufenden Wänden bis zur Spitze erstreckten. Beindruckend. Solch eine Innenarchitektur war mir noch nicht begegnet. Die Verantwortlichen hier wollten klotzen, das war unmissverständlich.
Wir gelangten schließlich in einen weitläufigen Rundraum, der von Leuchtsäulen getragen wurde, die ihre Farben beständig wechselten und den Saal in einen beweglichen Regenbogen verwandelten. Der Neurostream-Mitarbeiter klärte mich auf, dass wir uns an den Zugängen der Sitzungsräume befanden, von denen es an diesem Standort vier Stück gab. Er wies mich an, den Raum Nummer 3 zu betreten.
Ich spürte, wie mein Herz leicht schneller klopfte, während ich über die Türschwelle trat. Mein Erstaunen, als ich der ominösen Apparatur gegenüberstand, brach sich in Form eines faszinierten „Wow“ Bahn. Es kam einfach so über mich. Ich hatte noch nie solche Gerätschaften gesehen und konnte auch nicht genau sagen, mit was die Maschine vergleichbar wäre. Zu kryptisch war der Aufbau, wie aus einer anderen Welt. Vertraut war allein der klassische graue Polstersessel, der auf einem runden Podest thronte und dort wie ein Fremdkörper wirkte – wie eine Reliquie aus ferner Zeit, die von einer Zivilisation aus der Zukunft geborgen wurde.
„Machen Sie es sich bequem“, wurde ich angewiesen. Ich folgte der Anweisung und nahm auf dem Sessel Platz. Mir wurde ein Becher gereicht, in der eine  durchsichtige Flüssigkeit schimmerte, die einen medizinischen Geruch ausdünstete.
„Was ist das?“, fragte ich skeptisch.
„Es ist ein kleines Mittel zur Sedierung. Es geht nur darum, die Nerven etwas zu schwächen, wenn wir Ihnen die Elektroden einführen.“
Mir dämmerte, dass ich im Büro hätte fragen sollen, wie die Prozedur vonstattenging. Ein Gefühl der Beklemmung kam in mir auf, dem Übelkeit folgte bei dem Anblick der Nadeln, von denen mir der Mitarbeiter eine hinhielt. Gierig funkelnd nahm sie mich ins Visier.
„Trinken sie. Sobald das Mittel wirkt, werden wir Ihnen zwei bis vier Elektroden zuführen. Diese arbeiten über die schmalen, doch sehr stabilen Nadeln, über die wir die Verbindung zu ihrem Gehirn herstellen.“
Bereits eine einfach Spritze in meinen Arm war für mich äußerst unangenehm. Was in mir rumorte bei dem Gedanken daran, dass mir gleich ein paar solcher Spitzen durch den Kopf getrieben werden sollten, war kaum mehr zu beschreiben. Am liebsten wäre ich augenblicklich aufgestanden und hinausgestürmt. Doch in dem andauernden Zwist zwischen meiner Neugierde und meiner moralischen Ablehnung, die eigentlich nur noch mehr anschwellen sollte, gelang es ersterer, die Oberhand zu gewinnen. Also trank dich das seltsame Mittel und empfing nach einer Weile der Ungewissheit ein intensives Kribbeln, das meinen Kopf wie ein Bataillon Ameisen bedeckte.
„Sehr gut“, sprach mir der Mitarbeiter zu, als ich ihn über die einsetzende Taubheit informierte. „Dann halten Sie kurz still.“
Instinktiv zögerte ich zwei Mal, als sich die erste Elektrode bedrohlich näherte, wich zittrig zurück und atmete immer wieder tief durch. Währenddessen hielt der Assistent der Prozedur inne. Beim dritten Versuch disziplinierte ich mich dazu, still zu halten und ließ es zu, wie die Nadel in meine Schläfe dran. Ich spürte nichts. Nur einen leichten Druck. Egal wie tief sie in mich eindrang und das war ein gutes Stück, das der Mann sie in mich hineinschob, es geschah beiläufig. Das gleiche passierte bei der zweiten und dritten Elektrode. Mein Puls raste.
„Das erste Mal ist immer schwierig“, sagte der Mitarbeiter. „Aber wenn Sie einmal die Freuden unseres Programms genossen haben, dann geht es immer leichter.“
„Und wie geht es nun weiter?“, fragte ich.
„Sie geben mir jetzt einfach einen Programmwunsch, den ich Ihnen dann zuführe.“
 „Es ist mir egal etwas, machen Sie mich einfach glücklich. Ich will es ja nur antesten.“
„Nichts leichter als das.“
Der Mann machte an verschiedenen Schaltern und an einem PC herum, der in die Maschine integriert war. Ein summen ertönte, erst weiter weg, dann direkt in meinem Kopf. Die Situation war wie in einer Achterbahn. So wie es dort immer höher und höher ging und die Spannung sich auf ihre Klimax hinbewegte, nur um sich selbst auf einen Schlag im Adrenalinrausch zu sprengen, so wurde mir meine Verunsicherung in einer Flut der Glückseligkeit hinweggefegt. Ich wusste nicht, wie mir geschah oder woher dieser Frohsinn kam, er war einfach da. Von einer Sekunde auf die andere. Ich konnte nicht anders, als mich heiter zu fühlen und meine Mundwinkel zogen sich mechanisch nach oben. Ich war außerhalb der Kontrolle meiner Emotionen und es fühlte sich herrlich an. Ich dachte an Felix, an die Zeit, die wir mit einander verbracht hatten. All die großen Erinnerungen zogen an meinem geistigen Auge vorbei wie ein Film, den ich nicht stoppen konnte. Doch wo ich sentimental und wehklagend sein sollte, machte sich Glück und Dankbarkeit breit. Dankbarkeit für eine großartige Freundschaft, die mir so viel Zufriedenheit im Leben beschert hat. Dankbarkeit für unzählige ausgelassene Stunden. In diesem Zustand der Ekstase dachte ich nur noch an eines: Was für ein toller Freund Felix war. Ich hörte ihn mir beinahe wie ein Geist aus dem Nichts zuflüstern mit warmen Worten, die mir schmeichelten. Ja, er hat auch mich als echten Freund betrachtet. Es war wundervoll noch einmal diese Bestätigung zu erhalten.
Es war, als kämen seine Gedanken zu mir. Seine Gedanken? Da dämmerte es mir. Wie kam es, dass ich mich meinem Freund wieder so nah fühlen konnte. Was hat der Doktor gesagt? Sie könnten so viele Emotionen erschaffen, wie es Gehirne zum Scannen gab?
Gleich eines Betrunkenen in einem Moment der Klarheit, hatte ich diesen einen Augenblick, in dem ich es schaffte, mich aus dem rauschenden Strom zu hieven, der meine Gehirnströme in einem Trugbild ertränkte.
„Was habt Ihr mit Felix gemacht!?“, rief ich aus, panisch im inneren, nach außen hin als eine hohle Puppe dümmlich grinsend.
„Was habt Ihr mit Felix gemacht!?“, wiederholte ich.
Mein Kopf wurde schwer, so sehr, dass ich befürchtete, dass er mir jederzeit vom Hals gerissen würde. Er dröhnte wie ein uralter Maschinenraum. Die Welt verschwamm um mich herum, wurde zu einem trüben Tümpel. Das Bewusstsein schwand. Schwärze umgab mich.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich weggetreten war. Eine tiefe, aber freundliche Stimme sprach meinen Namen.
„Wachen Sie auf Herr Falk.“
Gleißendes Licht blendete mich bei dem Versuch, meine Augen zu öffnen. Ich wandte mein Gesicht ab und kniff die Lider zusammen, um mich sukzessive an das Licht zu gewöhnen.
„Wer sind Sie?“, frage ich. „Wer sind Sie?“
„Wer ich bin? Sagen wir mal so. Ich bin ein Visionär. Und Sie, Herr Falk, dürfen Teil meiner Vision sein. Sie im wahrsten Sinne des Wortes bewerben.“
Allmählich gewöhnten sich meine Augen an das Licht. Die Umgebung wurde klarer. Ich sah mich an einer metallischen Bare gefesselt und inmitten eines Operationssaals. Zu meiner Seite saß auf einem Hocker ein Mann im mittleren Alter, vielleicht an die dreißig. Kurzes, blondes Haar, schmales Gesicht und eine hakige Nase. Seine blauen Augen waren ebenso eisig wie seine gesamte Ausstrahlung, in der eine etwas juvenil-diabolisches Lag.
„Wer sind Sie“, wiederholte ich.
Der Mann gab ein affektiertes Lachen von sich.
„Wie gesagt, ich bin visionär. Und Sie sind nun ein Teil meiner Vision.“
Ich verstand kein Wort von dem, was er sagte.
„Aber lassen Sie mich erklären. Neurostream ist mein Kind. Mein Schlüssel zu den Menschen und mein Lebenswerk. Es wird mein Vermächtnis sein, an dem sich die ganze Menschheit erfreuen kann. Neurostream ist der perfekte Weg, die Menschen zu formen. Über ihre Emotionen. Wer die Emotionen beherrscht, beherrscht die Menschen. Manipulateure waren schon immer diejenigen, die an den Schalthebeln der Macht waren. Das wusste schon Machiavelli. Aber wer gut manipulieren wollte, der musste auch gewisse Talente dafür mitbringen. Psychologische Tricks und so. War nicht immer einfach. Neurostream bietet hingegen ganz neue Möglichkeiten. Es technologisiert die Psyche, das Gefühlsleben und hat in Datenform alles, was man braucht, um die Leute nach dem eigenen Willen zu verändern. Brillant nicht? Ich habe Jahre über Jahre daran gearbeitet. Und nun die die Zeit für die große Offensive gekommen.“
„Und was wollen Sie genau machen? Jeden Menschen von Ihren Maschinen abhängig zu machen und einen vollen Terminkalender zu haben?“ Ich schnaufte verächtlich und verdammte mich gleichzeitig für meine Dummheit, die allein mich in diese Lage gebracht hatte. Warum habe ich nicht auf meine Skepsis gehört?
Der Mann sprach weiter: „Die Maschinen braucht es bald nicht mehr. Sie waren nur ein Zwischenschritt. An Ihrem Beispiel sehen Sie ja selbst, wie effektiv das Marketing wirkt. Die Schwester Ihres Freundes hat Sie ja ordentlich erwischt. So zweifelnd und doch…allein, dass Ihr Freund bei Neurostream gearbeitet hat, hat sie dazu veranlasst, das Unbekannte zu erkunden. Ja. Frau Moldau hat ihre Arbeit vorzüglich verrichtet.“‘
„Lisa! Sie arbeitet für Sie?“, stammelte ich ungläubig.
Der geheimnisvolle Mann nickte mir zu. „Sehr gut für Mundpropaganda. Sehen Sie, die Apparate sind alsbald obsolet. Wir haben es geschafft, alle Emotionen in Chips zu transplantieren, waren bislang aber noch in der Versuchsphase. Aber nun beginnt das nächste Stadium. Wir werden die Chips in großem Stil produzieren und die Menschen damit versorgen. Traurige Menschen werden dauerhaft fröhlich, einsame spüren ewige Liebe und Erfolglose kommen sich vor, als hätten sie im Beruf etwas erreicht. Einfacher war es noch nie, sich gut zu fühlen, ohne wirklich etwas erreicht zu haben. Aber genau das ist es, was die Menschen wollen. Und den meisten ist eine Illusion, mit der sie sich besser vorkommen, lieber als die kalte Realität, die sie immer wieder an ihre Unzulänglichkeit erinnert.“
„Sie sind wahnsinnig“, rief ich schockiert aus.
„Warum? Weil ich etwas auf den Markt bringe, was die Menschen wollen? Ja, natürlich, manch einer würde uns moralisch verdammen. Von den Chips darf auch niemand etwas erfahren. Das würde uns keiner absegnen. Wir arbeiten vordergründig weiterhin mit den Maschinen und pflanzen die Chips ein, wenn unsere Kunden ohne Bewusstsein sind. Eine kleine Operation, nicht mehr. Die neuen Emotionen bleiben permanent. Aber dennoch kommen unsere Kunden wieder. Einfach, weil es in jedem Chip geschrieben steht, wie toll Neurostream ist. Menschen kommen wieder zu uns. Sie machen Werbung für uns. Sie spenden uns Geld oder engagieren sich ehrenamtlich für uns. Sie machen es so, wie wir wollen. Wir können diese Botschaften mitgeben und mit vielen weiteren Chips kombinieren, um Emotionen und Verhalten auf höchst individuelle Weise zu modifizieren.“
„Also nutzen Sie Ihr Produkt nur, um Werbung für Ihr Produkt zu machen, das wiederum nur Werbung ist?“ In mir brodelte es. Hätte ich nur die Kraft, mich von meinen Fesseln zu lösen, ich hätten diesen Kerl noch an Ort und Stelle vernichtet.
„Keineswegs“, antwortete der Irrsinnige. „Es ist weiterhin unser Anliegen, den Menschen zu helfen. Nur brauchen wir auch etwas finanzielle Unterstützung, um uns zu finanzieren. Aber der Fokus liegt darauf, den Menschen das zu geben, was sie wollen. Sie sollen sich nicht mit ihren echten Emotionen herumschlagen, sich weiterhin damit herumplagen. Warum denn auch? Hat denn nicht jeder das Recht, sich so zu fühlen, wie er möchte? Hat denn ein manisch depressiver Mensch nicht das Recht darauf, diese Depression hinter sich zu lassen und sich seine eigene Welt zu schaffen, die ihn froh macht? Warum darf der Mensch sich nicht sein Anrecht auf Liebe verschaffen, ohne dass er übergriffig wird? Und was ist mit Scheidungskindern? Warum diese den Schmerz einer Trennung aussetzen, wenn die Eltern auf Wunsch wieder in einer harmonischen Ehe leben können. Einfach so. Nur mit einem kleinen Eingriff.“
„Es ist falsch“, wandet ich ein. „Nicht natürlich.“
„Nicht natürlich, ja“, stimmte der Mann mir zu. „Aber dafür planbar. Wir können es hinkriegen, dass die Menschen keine unkontrollierten Gefühlsausbrüche mehr erleiden. Mit der richtigen Kombination aus Chips, können wir praktisch Verhaltensregeln festlegen und die Menschen in feste Bahnen lenken. Wir können eine Ordnung schaffen, Chaos vermeiden, das durch Affekte entsteht, die wiederum nur Leid verursachen. Neurostream ist der Schlüssel zu einer geordneten Welt, mit einem Konzept, an das noch keiner gedacht hat. Alle wollten immer nur den Gedanken angreifen, um Untaten und Unrecht zu verhindern und die Gesellschaft aufrechterhalten. Aber Gedanken kann man nicht unterbinden. Selbst in Orwells Dystopie war das nicht möglich, auch wenn der große Bruder alles dafür tat. Der Schlüssel dafür, die Menschen zur Ordnung zu rufen, ist es, sie bei ihren Emotionen zu packen. Kontrolliere die Emotionen und du kontrollierst die Menschen, ohne dass man sie tyrannisieren muss. Dann lösche das Negative und alle sind glücklich. Eine perfekte harmonische Welt ohne dass diese mit Gewalt erzwungen werden muss. Ist das nicht wunderbar?“
Ich spuckte voller Verachtung aus. „Es ist schrecklich. Der Mensch ist nichts ohne seine eigenen Gefühle. Er ist zwar fehlerhaft, aber er selbst.“
„Und wenn der Einfluss sehr positiv wirkt, was spricht dagegen?“
Ich protestierte gegen diese infame Frage: „Es gibt keinen positiven Einfluss. Jeder Einfluss ist der Wille eines anderen, der auf einen Menschen einwirkt und damit grundsätzlich negativ. Ich sehe darin nichts Gutes. Menschen müssen mit ihren eigenen Gefühlen klarkommen und sich selbst durch Tiefs und Hochs kämpfen. Unsere Gefühle sind das, was uns nicht nur zum Fleisch macht, sondern zum Lebewesen und zum Individuum. Gedanken können auch das Produkt der Masse sein, aber wie wir auf verschiedene Umstände emotional reagieren, das ist es, was uns wirklich einzigartig macht. Was Neurostream vorhat, ist eine Abschaffung der Natur.“
Der Mann schüttelte enttäuscht den Kopf. „Also gut“, seufzte er verkrampft hervor. „Ihr Freund hat ähnlich gedacht wie Sie. Darum mussten wir ihn entlassen und…nun ja…uns seiner entledigen.“
„Ihr wart das.“ Die Erkenntnis über die Wahrheit entfachte lodernde Glut in mir, die das Blut in meinen Adern erhitzte. Gequält biss ich mir die vibrierenden Lippen wund und zerrte an meinen Fesseln. Anstatt meine Ketten wie der Heroe aus einem griechischen Epos zu sprengen, wirkte ich eher wie ein Wurm, der sich am Angelhaken windete.
„Ja, das waren wir“, bestätigte mein Peiniger meinen Verdacht. „Er wollte uns auffliegen lassen und die Chips, die ihn an uns gebunden hätten, waren noch nicht bereit. Da haben wir ihm einen Chip eingepflanzt, der seine Depression verursacht und die suizidalen Gedanken in kurzer Zeit in ihm hervorgerufen hat. Es war die perfekte Immersion. Wir versuchen eigentlich, solche Maßnahmen zu vermeiden, aber in dem Fall ging es nicht anders.“
„Das werdet ihr bereuen“, keuchte ich hervor, wohlwissen, wie leer meine Drohung war.
„Tja. Wir werden sehen. Denn Sie werden sich bald mit der Situation abfinden. Sie werden den Tod Ihres Freundes verdauen und Sie werden überzeugt davon sein, dass alles im Sinne einer großen Sache geschah. Sie, Herr Falk, werden Neurolink lieben, es bewerben und jedem davon erzählen. Und sollte Ihnen doch einmal ein falsches Wort herausrutschen und Sie etwas verraten, dann werden Sie auf der Stelle so betrübt über ihre Untreue sein, dass Sie in ein tiefes Loch fallen und sich schließlich ebenfalls umbringen. Wir haben diesen Mechanismus eingebaut, für den Fall, dass ein Chip doch versagt, zu kleineren Problemen kann es ja immer kommen. Überlegen Sie sich dann also, ob Sie Ihre Ethik spielen lassen und den Tod finden oder ob Sie künftig glücklich und zufrieden für eine große Sache leben möchten. Sie können natürlich jederzeit zu uns kommen und Ihren Chip reparieren lassen, wenn etwas nicht ganz so läuft. Aber versuchen wir es erst einmal mit dem Testlauf.“

„Und du sagst, es hilft mir, die Trennung zu überwinden?“
„Aber sicherlich Mama.“
Mich hatte es so sehr betrübt, zu sehen, wie die Scheidung meine Mutter mitgenommen hatte. Auch wenn sie sich tapfer gab, bröckelte ihre Fassade zunehmend und legte offen, wie es unter der vorgeblichen Beherrschtheit aussah. Es war für mich daher ein Vergnügen und meine Pflicht als guter Sohn, ihr von Neurostream zu erzählen und davon, was für eine fantastische Wirkung die Behandlung erzielte. Ich konnte in den letzten zwei Wochen sogar schon einige Freunde davon überzeugen und war stolz darauf, dass mich daran beteiligten konnte, so ein herausragendes Produkt zu proklamieren. Zu Vater würde ich auch noch gehen. Den Tod meines Freundes hatte ich längst verdaut. Ihm würde es jetzt ohnehin gutgehen, völlig frei von diesem Gefühlschaos, mit dem sich all die bedauernswerten Menschen im irdischen Gefilde herumschlagen durften.
„Also Mutter, wie sieht es aus? Wenn du willst, bringe ich dich gerne hin.“
„Also gut, Schatz. Ich mache es.“





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