Eine neue Welt

„Die Wildnis ist gefährlich.“ Keinen anderen Satz hatten Lydias Eltern ihr mehr eingebläut als diesen. Schon von klein auf begleiteten sie die Geschichten von Tieren, von blutgierigen Bestien. Wölfe hießen sie, Bären und Tiger und noch viele weitere seltsame Namen trugen sie. Jede Nacht, wenn das Mädchen zu Bett ging, erzählte ihre Mutter davon: „In der Wildnis geht es um das Jagen und das Töten. Tiere töten sich untereinander. Und Tiere töten Menschen. Sie würden auch dich töten, wenn sie dich kriegen.“ Anfangs malte Lydia sich diese Tiere in ihren schrecklichsten Formen aus – als Monstrositäten mit glühenden Augen und meterlangen Krallen, die sie regelmäßig ihn ihren Alpträumen heimsuchten. Ab und an wachte das Kind schreiend auf. Ihre Eltern kamen dann ins Zimmer und beruhigten die Tochter: „Du musst keine Angst haben. Wir sind hier sicher. Die Tiere können dir nichts tun.“
Es dauerte sehr lange, bis Lydias Furcht schwand. Irgendwann, es war um das Alter von 4 Jahren herum, wurden die Alpträume weniger. Schließlich blieben sie vollständig aus. Dazu trug auch der Umstand bei, dass ihre Eltern begannen, während des Unterrichts mit ihr ein paar Naturfilme anzusehen. Schon sahen diese geheimnisvollen Wesen nicht mehr ganz so grauenvoll aus. Teilweise sogar niedlich. Allerdings erkannte Lydia auch, dass ihre Eltern absolut Recht hatten damit, wie brutal es in der Natur zuging. Da rissen übergroße Katzen Affen, verspeisten Echsen eine Art Hirsch bei lebendigen Leib. Das arme Opfer lebte noch, als der Bauch vollständig offen lag und das Echsentier einen kleinen Hirsch herauszog und in einem Zug verschlang. In einem Film starb ein Mensch unter schrillen Schmerzensschreien, als ein Rudel von Hunden auf ihn wie im Rausch einbiss – Hunde, die nicht so lieb waren wie ihr Haushund Flocke. Die Vierbeiner in dem Video waren nicht schön. Zerzaust waren sie, das Fell nur noch spärlich am Körper. An den kahlen Stellen platzten eitrige Geschwüre.
Doch so abstoßend und verstörend die Bilder waren, sie nahmen Lydia merkwürdigerweise etwas von ihrer Angst vor dem Unbekannten. Vielleicht lag es an dem Mut, den Mutter ihr immer wieder zusprach: „Aber die Tiere können hier nicht rein.“ Vielleicht leistete der Saft seinen Beitrag, der Lydias Kopf immer so schwer machte, sie über Stunden in einen Zustand der Euphorie versetzte mit tausenden Regenbögen, die an ihrem Auge vorbeizogen.
Vielleicht lag es auch an der Neugier, die den Geist des Mädchens erfüllte. Mehr als die gewaltsamen Impressionen prägten Lydia nämlich die wunderschönen Landschaften. Die reißenden Flüsse, die sich zwischen steilen Felswänden und sich anmutig in die Höhe reckenden Bäume hindurchschlängelten, die zerklüfteten Schluchten inmitten unendlicher sandiger Weiten, massive Bollwerke aus Schnee, die Wald und Gestein unter sich begruben und irrlichtender schimmernder Nebel, der seine Bahnen über blubbernde Sümpfe zog. Das Meer faszinierte Lydia besonders. Die wie Seidenband glänzende und sich im Wind als Wellen hebende Oberfläche und darunter das mystische Blau, das irgendwann im Nichts verlief, in die Finsternis – davon konnte das Mädchen nicht genug sehen, auch wenn die übergroßen Fische mit den schwarzen, leeren Augen, Haie hießen sie wohl, noch immer zu den Tieren gehörten, die ihr einen Schauer über den Rücken laufen ließen.
Zunehmend begann Lydia sich zu fragen, wie etwas so Schönes und Erstaunliches so gefährlich sein konnte. Warum war die Welt so beschaffen, dass sie einerseits so bezaubernd war und dann so grauenerregend zugleich? In ihr kam der Wunsch auf, etwas von der Wildnis zu sehen. Nur ein bisschen. Als sie dieses Anliegen eines Tages äußerte, fielen ihre Eltern aus allen Wolken. Ratlos sahen sie sich an. Das Schweigen, das darauffolgte, war ebenso bedrückend wie irritierend. Aber wer konnte es ihnen verübeln, dass nach den ganzen Horrorgeschichten und den vielen schlechten Träumen die eigene Tochter dennoch den Ort aufsuchen wollte, vor dem sie so eindringlich gewarnt wurde. Wie zu erwarten waren ihre Eltern zunächst strikt dagegen und wiegelten jede weitere Anfrage dazu ab. Zunächst waren sie nüchtern abweisend, dann wütend, schließlich versuchten sie es damit, an der Vernunft ihrer Tochter zu appellieren. Doch das wissbegierige Kind blieb stur. Stets aufs Neue legte es sich Argumentationen zurecht, um ihr Anliegen zu bekräftigen. Letztendlich mit Erfolg. Ihre Eltern gingen missmutig auf ihren Wunsch ein. Es ging endlich in den Urlaub. In die obere Etage. Zum ersten Mal.
„Darf ich etwas raus?“, fragte Lydia, die aufgeregt am Fenster stand. Es war bereits dunkel. Nur das fahle Mondlicht spendete etwas Sicht. In seinem mondänen Schein wiegten sich die Bäume in einem unrhythmischen Tanz zum geisterhaften Gesang des Windes, der durch jede Ritz im Mauerwerk drang und an den Fensterladen klapperte.
„Nein“, antwortete ihre Mutter. „Wir haben jetzt schon so viel gestattet. Aber weiter solltest du nicht rausgehen. Hier in der Hütte bist du sicher.“
„Vater?“
„Deine Mutter hat Recht. Du kannst die Landschaft von hier aus betrachten. Morgen, wenn es wieder heller ist. Dann siehst du mehr.“
„Aber können wir nicht einmal rausgehen? Ihr beschützt mich doch?“
„Ich wünschte, wir könnten dich beschützen“, entgegnete Lydias Mutter.
Das Mädchen stieß einen enttäuschten Seufzer aus. Im gleichen Moment wurde ihr zum ersten Mal klar, warum ihre Angst vor der Wildnis verblasste. Ja, die Wildnis war brutal. Die Tiere kämpften gegeneinander und töteten sich. Aber sie waren auch frei. Keine Grenzen, keine Mauern. Es war diese Freiheit, die diese seltsame Anziehungskraft auf Lydia übte, der sie kaum widerstehen konnte. Lydia wollte diese Freiheit und sie würde sie bekommen.
Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie nun aus ihrem unterirdischen Wohnquartier draußen. Das Verlassen der Hütte würde der nächste Schritt sein. Heute Nacht würde sie abhauen. Sie wollte die Wildnis sehen. Erleben, wie die Natur tatsächlich war. Ihre Eltern ließen sie im Urlaub oben schlafen. Das war die Gelegenheit.
Der Boden knackte und knarrte. Lydia lugte aus ihrer Decke auf ihrer Couch hervor und erblickte die Silhouette, die sich behäbig zur Eingangstür begab. Sie erkannte ihren Vater. Er verließt die Hütte. Was hatte er vor? Lydia wartete einen Moment ab und stand sachte auf. Behutsam huschte sie durch den Raum, ihrem Vater hinterher. Er hatte die Tür offengelassen. Nachlässig. Offenbar dachten ihre Eltern noch immer, dass sie ihre Tochter komplett in ihrer Hand hatten. Allerdings hatte sie es dieses Mal vermieden, den Regenbogensaft einzunehmen. In einem flüchtigen Moment, als ihre Eltern nicht hinsahen, tat Lydia so, als würde sie ihn trinken und kippte ihn heimlich in eine Vase, in der Hibiskus in zu viel Wasser einging.
Alsbald das kleine Mädchen vor die Tür trat, umfing sie ein nie gekanntes Wohlgefühl. Die kühle Luft umschmeichelte ihre Haut mit sanften Bissen, die sich ungleich angenehmer anfühlten als der Kuss der Wärme in ihrem von künstlichem Licht erfüllten Quartier – eine herrliche feuchte Frische schwang in jeder Brise mit, die an Lydias Haar wie an den Seiden einer Violine spielte. Das nasse Gras verwöhnte ihre Zehen. Jeder Schritt war wie ein Sprung vom schroffen Fels des Olymps auf die Wolken, in denen die Götter residierten. Das Mädchen atmete freier aus als je zuvor, während sie sich mit einer Mischung aus Erstaunen, Verwunderung und Unsicherheit voran bewegte. Sie war wie neugeboren in dieser fremden Welt. In der Ferne sah sie die Umrisse ihres Vaters sich entfernen und auf ein Licht zuhalten. Lydia folgte auf sicherem Abstand. Das Licht wurde größer, die Umgebung klarer. Schon bald stellt Lydia ernüchtert fest: Nichts war wie erhofft. Keine Wasserfälle, keine Steppen, keine Berge. Große Hütten standen dort, sie sahen größer und moderner aus, als das armselige Gebäude, das so abseitsstand und in dem sie ihre ersten Lebensjahre verbrachte. Der Grasboden wich irgendeinem harten Grund. Karge Mauern erhoben sich. Was wollte ihr Vater an diesem unwirtlichen Ort?
Dann, an einem weitläufigen Platz voller Klettergeräte wie in Lydias Tobzimmer, kamen aus den Schatten weitere Menschen hinzu. Fünf Umrisse nahm sie war. Sie unterhielten sich mit ihrem Vater. Er in einem normalen Ton, dann sehr lautstark. Sie hörten sich wütend an, irgendwie verärgert. Lydia verbarg sich hinter einem kleinen Strauch und beobachte die Szene. Ihr Vater sagte irgendetwas, aber sie konnte nicht verstehen, was. Er hielt irgendwas in der Hand. Seine Stimme klang, als hätte er Angst. Ein paar der Männer traten an ihn heran und packten ihn.
„Unser Geld!“, rief einer. „Gib es!“
„Ich bringe es beim nächsten Mal! Aber ich brauche etwas von dem Stoff! Es ist wichtig.“ Vaters Stimme wurde panischer.
Was dann geschah, passierte so schnell, dass Lydia der Szenenfolge kaum gewahr wurde. Ein schriller Schrei durchschnitt den Schleier der Stille. Erregte Rufe folgten. Die Menge löste sich auf und der Platz war leer. Ein regloser Körper am Boden blieb zurück. Zitternd und schwer atmend ging Lydia auf den Körper zu. Es war ihr Vater, dessen Hals eine scharlachrot sprudelnde Quelle war. Mit zitternden Knien beugte sie sich zu ihm hinab. Der Eisengeruch vermengte sich mit dem stechenden Duft, der Lydia nur zu bekannt war. Es war der Regenbogensaft, der aus einer zerbrochenen Flasche heraus über den Boden rann.
„Vater?“, wisperte das Mädchen geistlos. Eiswasser durchströmte ihre Adern. Ihr Vater bewegte sich nicht. Starr lag sein Leib auf dem harten Boden. Lydia war klar, was geschehen war. Tiere töten Tiere, Tiere töten Menschen Und Menschen töten Menschen. Das war die Wildnis, wie sie wirklich war und Lydia hatte sie endlich selbst erlebt.

Beitragsbild von Darkmoon Art by Pixabay

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