„Warum? Warum hast du mir das angetan? Ist dein Verlangen nach Rache so stark?“
Heiße Glut schoss durch meine Adern. Ich war eine überkochende Maschine kurz vor dem Kollaps, als ich Sebastian so gegenüberstand und Erklärung von ihm einforderte.
„Es war schlimm, was passiert ist. Ohne Frage. Und es tut mir leid. Es tut mir so leid und ich werde immer mit dieser Schuld leben müssen. Aber es war keine Absicht. Und es ist so lange her. Also, warum tust du mir das an?“
Quälende Stille füllte den Raum und die Sekunden wurden zu Minuten. Jeder Moment ohne Antwort nagte an mir und reizte mich bis aufs äußerste. Das verführerische Verlangen, meiner Wut einfach freien Lauf zu lassen und auf meinen ehemaligen Freund einzuschlagen, ihm einfach das Gesicht zu zertrümmern, kam mir auf beängstigende Weise genauso normal vor, wie wenn mein Appetit durch einen liebsamen Duft erlesener Delikatessen angeregt wurde. Und genau wie zur Stillung meiner kulinarischen Bedürfnisse ich mich an einer edlen Speise delektiert hätte, so wäre mir die archaische Gewalt, nach der sich meine Fäuste sehnten, ebenso eine Befriedigung eines dringlichen Triebes gewesen. Letztendlich war es nur eine originär menschliche Regung.
Sebastian hielt mich lange hin, doch schließlich antworte er mir: „Glaubst du wirklich, dass deine lächerliche Entschuldigung irgendetwas ändert? Glaubst du, du kannst mich dadurch besänftigen? Du hast mein Leben ruiniert. DU warst es!“
Sebastian spuckte Gift und Galle, als er seinen Vorwurf gegen mich erhob. Blanke Verachtung lag in seiner Stimme. Vor geraumer Zeit noch hätte mich dies Anklage direkt in mein Herz getroffen, wie ein Speer durchbohrt und mich in die Knie gezwungen, hinabgedrückt in einen Zustand der permanenten emotionalen Lähmung. Doch nach den Schändlichkeiten, die Sebastian gegen mich begangen hatte, fiel es mir ungleich leichter, diesem Angriff zu widerstehen. Ich war es schließlich nicht, der absichtlich gehandelt hatte. Er hingegen fügte mir bewusst Schmerzen hinzu. Und dabei hatte ich schon genug gelitten. Die Alpträume, die mich seit dem Unfall jede Nacht plagten, die entsetzlichen Bilder, die mich während des Schlafes heimsuchten, so unfassbar real. Sie ließen mir keine Ruhe, quälten mich ohne Unterlass und konfrontierten mich beständig mit der Last meiner Schuld. Immer wieder erlebte ich das gleiche Szenario: Ich sah meine Frau Emilie sterben, vom Auto getroffen, verrenkt durch die Luft segelnd und schließlich mit zertrümmerten Körper am Asphalt aufprallend.
Stechend drang das Quietschen der Reifen in mein Ohr. Der dumpfe Knall folgte. Hysterisches Geschrei der Zeugenmenge, die wild gestikulierend wie aufgescheuchte Hühner umherrannten. Nachdem der erste Schock sich gelegt hatte, spurtete ich los und nahm meine Frau in die Arme. Sie versuchte zu reden, brachte jedoch nur ein schweres Röcheln hervor, das in ein agonisches Gurgeln überging, als ein scharlachroter Schwall aus der Mundhöhle hervorschoss und in alle Richtungen über ihr Gesicht rann. Ich hielt ihren Kopf und versuchte, sie in die stabile Seitenlage zu bringen. Vergeblich. Langsam wich meiner Gattin das Leben aus dem Gesicht. Ich spürte, wie ihr Atem versiegte, der Puls erlahmte und das lebhafte Funkeln ihrer Augen von einem grauen Schleier getrübt wurde. Ich weinte im Angesicht der Todesangst, die unzweifelhaft in ihrem Blick stand und ich stieß eine Urschrei aus, als sich diese Angst mit ihrem letzten kalten Hauch in die Pupillen gebrannt hatte. Dann brach der Traum ab. So geschah es wieder und immer wieder. Jeden Morgen wachte ich schweißgebadet, gemartert und ohne Vitalität auf. Mein Schädel dröhnte und auch während des Tagesverlaufes kam ich kaum dazu, mich gedanklich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Sehr zu Lasten meiner Konzentration bei der Arbeit, was mir bereits eine Abmahnung eingebracht hatte. Deshalb hatte ich mir Urlaub genommen, um etwas Zeit für mich zu haben.
Zu jenem Zeitpunkt dachte ich, dass es meine Gewissensbisse waren, die mir diese grauenvollen Nachterlebnisse brachten, als ein Akt der Reue und der Selbstgeißelung, um mich für den größten Fehler meines Lebens zu bestrafen.
Mit der Zeit bekam ich sich intensivierende Angstzustände, die mit unregelmäßig auftretenden Zitteranfällen einhergingen. Ich war nie jemand, der an so etwas wie Visionen oder Prophezeiungen glaubte, doch so sehr ich mir Mühe gab, entsprechende Gedankenspiele als Unsinn abzustempeln – ich erwischte mich dabei, mir größte Sorgen um Emilie zu machen und ihr zur Vorsicht mahnend zuzureden, als wäre sie meine Teenager-Tochter. Je länger die Alpträume anhielten und je mehr ich über sie sinnierte, desto mehr legte sich ein Schatten auf meinen Verstand. Meine Brust brannte pausenlos. Irgendetwas würde geschehen, davon war ich überzeugt. Zunächst brachte ich es nicht über mich, Emilie zu erklären, was meinen Zustand verursachte. Ich wollte sie nicht verunsichern mit den Spinnereien in meinem Kopf. Natürlich bemerkte sie, dass mit mir etwas nicht stimmte. Dass ich Urlaub nahm (die Abmahnung verheimlichte ich) und fast schon lethargisch vor mich hinvegetierte, war für sie ebenso verdächtig wie meine nächtliche Unruhe für sie nicht zu übersehen war. Ebenso nahm sie meine übertriebene Schreckhaftigkeit mit Bestürzung war. Nach einigen eindringlichen Nachfragen und einem beinahe eskalierenden Streit, überwand ich mich dazu, offen mit ihr darüber zu reden, was ich regelmäßig träumte. Meine liebste Emilie, die stets so viel Empathie für jeden Menschen zeigte, sprach mir gemäß ihrem Wesen Mut zu. Sie nahm mich in den Arm, liebkoste mich, pflegte mich und tat alles dafür, dass es mir gutging. Mein Zustand besserte sich dadurch nicht und mich der Verzweiflung nahe wähnend, beschlossen wir dazu, einen Psychologen aufzusuchen.
Sebastians kalte Stimme riss mich aus meiner kurzzeitigen Gedankenversunkenheit und holte mich ins Hier und jetzt zurück. Er sprach: „Du denkst, du hast genug gelitten? Glaubst du, du kannst empfinden, was ich durchmachte?“
Ich schüttelte den Kopf und antwortete: „Nein. Das kann ich nicht. Und du musst es vielleicht nicht annehmen, wenn ich dich um Entschuldigung bitte. Aber deine Rachsucht ist doch irrsinnig. Es war ein Unfall. Gott verdammt, ein Unfall. Muss ich dafür bestraft werden?“
„Dass es ein Unfall war, macht es nicht besser. Du hast mir genommen, was mir lieb war und mein Leben. Dafür musst du bezahlen. Wegen dir ist mein Sohn tot. Weil du einmal nicht aufgepasst hast und bei Rot in die Kreuzung bist. Das war nicht einmal mehr ein flüchtiger Fehler. Ich habe ihn dir anvertraut.“
„Es war schrecklich“, erwiderte ich. „Und ich werde mir nie vergeben. Ich habe auch verstanden, dass du mit mir nichts mehr zu tun haben wolltest. Absolut verständlich. Aber diese Nummer, die du jetzt abziehst….“
Mit dem Gekeife einer Furie unterbrach mich Sebastian: „Du hast überlebt und mein Sohn ist gestorben! Warum?! Warum musste so ein junger Mensch sterben und du durftest leben? Ist das gerecht?“
„Vielleicht nicht. Es ist aber auch nicht gerecht, mich dafür verantwortlich zu machen. Ich habe eine Strafe erhalten.“
„Auf Bewährung!“
Schwer zu sagen, welche Wut größer war – meine oder seine? Sebastians würgte seine Worte mit einer Flut von Galle hervor. Ich versuchte, beherrscht zu sprechen, auch wenn es sinnlos war, den bröckelnden Damm in mir zu verschleiern. Vor ihm konnte ich meine Gefühle und meine Gedanken nicht verbergen.
„Die Schuld wird ewig bleiben und auch dass du dich an meiner Frau vergangen hast, sollte dir doch jetzt reichen. Was bist du für einer, der eine unschuldige Frau da mit reinzieht, nur um mich zu verletzten. Du hast sie zugerichtet.“
Sebastian lachte höhnisch und sagte: „Bitte. Sie hat sich selbst den Schädel gegen die Wand gedonnert. Wer einen wahnsinnigen Ehemann hat, der fällt allzu leicht selbst dem Irrsinn anheim.“
Diese Häme! Er versuchte mich, zu provozieren, um mich anzuspornen, weiter in seinem sardonischen Spiel mitzumachen. Es war eindeutig, dass er es auskosten konnte, mich so zu quälen. Zähneknirschend und hilflos stand ich an Sebastians Bett. So friedlich lag er da in seinem Dämmerzustand. Für die Ärzte und Pfleger nur ein Typ, der sich in den Kopf geschossen hatte und nun im Koma lag. Aber ich wusste genau, was für eine Maskerade sein Zustand war. Äußerlich an der Schwelle zum Tod, arbeitete er auf einem unvorstellbaren mentalen Level. Während alle nur darauf warteten, dass der Patient endgültig vom Leben abließ, dachte dieser gar nicht daran. Im Gegenteil. Sei Hass trieb ihn trotz seiner physischen Immobilität zu Leistungen an, die sein Fleisch entbehrlich machten. Anfangs konnte ich es nicht begreifen, als die Alpträume sich wandelten und Sebastian plötzlich in ihnen zu mir sprach. Er erzählte mir davon, dass er die Träume zu verantworten hatte, meine Angstgefühle auslöste und dass er jederzeit in meinen Verstand eindringen konnte. Es war zu absurd, als dass ich so etwas hätte wirklich ernst nehmen können. Was für ein Narr ich war. Er hinderte er mich an grundlegenden motorischen Funktonen, entlockte meinen Gedanken Worte, die ich so niemals geäußert hätte, was mich in sehr unangenehme Situationen brachte. Je mehr ich mich dem verweigerte, was geschah, desto aggressiver agierte er. Er trieb mich zur leichten Selbstverletzung an, nur um seine Machte zu demonstrieren. Ich war ihm ausgeliefert und verharrte permanent in einem Zustand der Schutzlosigkeit. Es war klar: Die Angst, die ich aufgrund meiner Träume verspürte war keine irrige Phantasmagorie. Sie war keine Sinnlosigkeit, mit der ich mich selbst schindete. Sie war absolut berechtigt. Selbst, wenn Sebastian nicht mit Gewalt auf meine Gefühlswelt eingewirkt hätte, so hätte ich jeden Grund gehabt, in Furcht zu leben. Jedoch hatte ich stets weniger um mich Angst als um Emilie.
„Ich werde sie nicht töten“, flüsterte mein Peiniger in meinem Kopf. „Aber du wirst noch um sie weinen.“
In Folge dessen wurde Emilies Verhalten immer irrationaler und beängstigender. Sebastian drang in sie ein und ich konnte nichts dagegen tun. Egal, ob sie unverständlich und wirr daher brabbelte, sich wie von einem Dämon besessen am Boden wälzte oder sie sich selbst mit heißem Wasser verbrühte – ich war machtlos. Natürlich versuchte ich, sie von den Selbstverletzungen abzuhalten, so gut es ging. Im Nachhinein hätte ich viel früher den psychiatrischen Dienst anrufen sollen. Allein der Gedanke jedoch, meine Liebste als verrückt auszugeben, obwohl sie es eigentlich nicht war, war unerträglich. Doch hätte ich dieses Opfer erbracht, dann hätte ich womöglich verhindert, dass Sebastian ihr einst so liebliches Gesicht zerstörte.
„Was willst du?“, fragte ich Sebastian forsch. Hätte irgendwer vom Personal mitgekriegt, wie aufgebracht ich hier mit einem Komapatienten sprach, ich wäre der nächste gewesen, der in die Anstalt eingeliefert worden wäre.
„Wie gewünscht bin ich hierhergekommen“, fuhr ich fort. „Also, was willst du? Können wir das endgültig abschließen?“
„Oh ja“, sprach Sebastian. „Wir können es beenden und ich habe eine Lösung.“
Die siegessichere Zufriedenheit in seiner Stimme verhieß nichts Gutes. Logisch betrachtet hätte ich diesen Ort nicht aufsuchen sollen. Aber was hätte ich sonst machen sollen? Vor ihm gab es kein Entfliehen.
Mein Kopf schmerzte schlagartig auf eine Weise, wie ich sie noch nie in meinem Leben erfahren habe. Alle Gedanken verschwammen zu einem undefinierbaren Konglomerat und für eine unbestimmte Zeit hatte ich das Gefühl vollkommener geistiger Leere. Ein Blitz durchzuckte meine Gehirnströme. Das Brennen war unerträglich. Ein Vorschlaghammer zertrümmerte die Öffnung zu meinem Neocortex. Wie aus einem Flugzeug, dem man im Flug die Fenster eingeschlagen hatte, wurde mein Verstand herausgezogen. Schwärze umgab mich. Mein Körper war wie angewurzelt, keine Muskelbewegung möglich. Aus der Dunkelheit sprach Sebastian zu mir: „Ich bin lange genug gelegen. Mit dem Tod meines Sohnes muss ich mich abfinden. Ich habe lange nachgedacht. Nein, ich will doch noch nicht sterben. Und ich will auch nicht, dass du stirbst. Die Vitalität meines Körpers ist gut. Du wirst noch viele Jahre Freude daran haben. Als Gegenzug für dein…Geschenk…werde ich dich nicht mehr heimsuchen. Aber ich werde die Zeit mit Emilie sehr genießen. Ich werde sie geistig wieder genesen lassen. Und du wirst immer wissen, dass wir eine schöne Zeit miteinander verbringen. Ich wünsche dir ein schönes Leben noch, meine lieber Freund.“
Und so liege ich bis heute da, mehr Puppe als Mensch und warte auf das Ende, unfähig mich auch nur in geringster Weise zu artikulieren. Ach Emilie, wenn du nur wüsstest. Wenn irgendwer wüsste.
Beitragsbild von chenspec by Pixabay
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