Thomas war einer meiner besten Freunde. Wir verstanden uns prima und kannten uns schon lange. Stets nahm ich ihn als einen Mann voller Zuversicht und Mut war, bei allem, was er anging. Umso ungewohnter war für mich der Anblick, den er bot, als wir uns an meinem Esszimmertisch gegenübersaßen. Die Ellbogen auf dem Tisch, die Hände zum Sockel geformt auf dem er seinen Kopf schwerfällig stützte. Er wirkte, als wäre er in kurzer Zeit über Jahre gealtert, so faltig war sein Gesicht, wobei sich seine Mundwinkel nach unten zogen wie bei einer Molosser Rasse.
„Ich mach mir echt Sorgen.“, seufzte Thomas. „Um meinen Ruf. Um meine Karriere. Das ist alles so scheiße.“
„Und du weißt nicht, wer der Typ ist?“, fragte ich und sah ihn mitleidsvoll an.
„Nein, woher auch?“, antwortete Thomas. „Er kam einfach aus dem nichts. Hat auf in Facebook auf einen Kommentar von mir geantwortet und dabei meinen echten Namen genannt. Ich bin aber unter Pseudonym, wie du weißt. Es ist auch niemand, den ich in der Freundesliste habe. Keine Ahnung, woher er weiß, wer ich bin.“
„Was hat er jetzt eigentlich genau gemacht?“
„Nun ja. Er hat einfach aus einem heiteren Himmel heraus auf einen Kommentar von mir geantwortet. Ich habe Linksradikalismus kritisiert. Nichts Schlimmes. Aber er hat dann darauf damit geantwortet, meinen echten Namen in Großbuchstaben hervorgehoben zu posten und mir vorgeworfen ich würde wieder einmal rechte Parteien verteidigen. Habe ich nicht im Geringsten gemacht. Ich war immer überzeugter Liberaler. Ja, ich habe mich gegen Linke geäußert und du weißt ja, auch gegen die aktuelle Flüchtlingspolitik. Darüber hatten wir ja schon paar Debatten.“
„In der Tat“, sagte ich knapp.
„Aber ich habe mich auch stets von jedem völkischen Gedankengut distanziert. Ich bin Rechtsliberaler durch und durch. Offenkundig hat aber jemandem aber meine Ansicht nicht ganz gefallen. Ich mein, dass man online als sehr rechts, Nazi oder sonst was beschimpft wird, daran gewöhnt man sich. Ist ja mittlerweile Standard. Für andere war ich hingegen auch schon ein Linksversiffter. Ich fühle mich eigentlich ganz gut, wenn ich praktisch ein Kommunisten-Nazi bin. Zeigt mir an, dass ich doch in der Mitte stehe. Dass aber dann jemand so herkommt und meinen Namen herausposaunt. Ich mein, was soll das?“
„Wobei man eigentlich seinen echten Namen angeben sollte.“
„Rechtfertigt das irgendwas?“ Thomas blickte mich vorwurfsvoll an. „Du kennst den Grund, weshalb ich etwas anonym agieren muss. Mit meinen Ambitionen kann ich halt schnell in die Schusslinie geraten. Bin ich ja schon. Aber so oder so, es geht einfach nicht, dass mich da ein Wildfremder anschreibt, der weiß ich wo, seine Informationen über mich herhat. Das ist gruselig.“
„Wie ist es dann jetzt genau weitergegangen?“, erkundete ich mich.
„Ja. Er hat sich dann nochmal angeschrieben. Ralph Schmitt heißt er übrigens. Also angeblich heißt er so. Ziemlich leeres Profil. Sieht nach einem Fake aus. Er hat mir eine Privatnachricht geschrieben. Und mir damit gedroht, dass er mich vor meinem Auftritt outet. Dass er mich denunziert und auch meine Adresse veröffentlicht.“
„Das klingt ziemlich scheiße“, gab ich zur Antwort. Thomas fuhr sich nervös durch sein Haar.
„Ich weiß nicht, was ich machen soll“, fuhr er fort. „Ein bisschen sorge ich mich schon. Ich habe in paar Tagen die nächste Lesung. Klar, nur durch einen Kleinverlag, was ich gerade mach. Aber immerhin eine Möglichkeit, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Das ist der erste große Schritt. Das ist eine Chance. Und ein paar Stammleser habe ich ja schon.“
„Und das freut mich für dich“, sagte ich. „Aber meinst du dann nicht, dass es besser wäre, nicht irgendwo was zu posten. Oder dich vielleicht von ein paar Ansichten zu distanzieren. Also, das einfach nicht so von dir zu geben?“
Thomas gab mir mit einem bösen Blick zu verstehen, dass ich zu viel wagte. „Das meinst du doch nicht ernst?“, schnauzte er. „Warum sollte ich mich mit meiner Meinung zurückhalten?“
Ich antwortete: „Nun ja. Du kannst ja deine Meinung haben. Aber manches kommt halt nicht so gut an. Wie gesagt, da divergieren wir ja beide auch stark auseinander und hatten so manches Streitgespräch. Wenn du einfach sagst, dass Griechenland militärisch unterstützt gehört, um Flüchtlinge abzuwehren und pauschal Muslime verunglimpfst.“
Thomas schüttelte den Kopf und seufzte. „Ich sagte, dass es Pflicht eines Staates ist, Grenzen zu verteidigen und wenn man versucht mit Gewalt darüber zu kommen, dass es dann auch das Recht ist, sich zu wehren. Und ja, ich kritisiere den Islam als System, das so wie es in den islamischen Staaten mit Sharia praktiziert wird, mit Europa nicht vereinbar ist. Das richtet sich aber nicht gegen Muslime als Individuum. Verstehst du doch oder?“
Ich nickte ihm zu und versuchte beschwichtigend zu entgegen: „Ich verstehe. Das ist auch legitim, das zu sagen. Aber es ist auch kontrovers. Das mag nicht jeder. Vielleicht solltest du, wenn du schon beginnst, als Autor in der Öffentlichkeit aufzutreten, so etwas unterlassen. Wer publiziert, gerät halt leichter in die Schusslinie. Und solche Themen wie die sind halt immer heikel.“
„Das weiß ich“, blaffte Thomas mich an, machte ruckartig eine Pause und fuhr mit gesenkten Ton fort. „Entschuldigung. Wollte nicht laut werden. Ich weiß, dass es streitbar ist. Aber ich stehe auch zu meiner Meinung. Und das werde ich auch vorlesen. Ich werde am Wochenende aus meinem Buch lesen, aber ich werde auch aus einer Kurzgeschichte lesen.“
Ich wurde hellhörig. „Eine Kurzgeschichte?“, fragte ich. „Kenn ich die schon?“
„Nein. Nein, kennst du nicht. Die sollst du auch erst am Samstag kennenlernen, wenn ich sie vortrage. Aber das Thema kann ich ja schon mal sagen. Ja, es geht um den konservativen Islam. Es geht um zwei Freunde, wobei einer ein Muslim ist. Und dieser verfängt sich immer mehr in einem Geflecht der Doppelmoral, weil er zwar einerseits betont, dass er für Meinungsfreiheit ist, aber mit einer „ja, aber“-Mentalität daherkommt, wenn es um Mohammed Karikaturen geht. Der Freund wirft im indirekten Unterstützung von Islamismus vor und es kommt zum Streit.“
„Das klingt wirklich kritisch“, sagte ich. „Ich mein. Die Sache mit dem enthaupteten Lehrer ist ja noch immer recht präsent und da gab es ja großen Aufruhr darum, auch über die Karikaturen an sich. Willst du das wirklich machen? Gleich beim ersten Auftritt?“
„Ja“, sagte mein Freund entschlossen. „Ich kam zwar kurz ins Grübeln und der Typ, der mich belästigt, der macht mir schon Sorgen. Aber ich lasse mich auch nicht unterkriegen, wenn ich meine Meinung vertrete. Ich will auch dazu stehen, womit ich mich schriftstellerisch betätige. Und mein Verlag weiß ja Bescheid. Er gibt mir das Ok dazu.“
„Das ist ja immerhin etwas. Ich hoffe nur, dass dir dieser Idiot kein Strich durch die Rechnung macht.“
„Was will er denn machen?“ Thomas Mine wurde etwas zuversichtlicher. „Auf Facebook trollen doch viel einfach so rum.“
„Da hast du wohl Recht“, stimme ich zu.
Wir ließen von dem betrüblichen Thema ab und
wandten uns freudigeren Gesprächsbereichen zu. Dabei genossen wir guten Whisky. Der Missmut wich ausgelassener Heiterkeit und so verging der Abend. Schließlich verabschiedete Thomas sich und bedankte sich dafür, dass ich ihm zuhörte und dafür, dass das Beisammensein aber doch noch so lustig wurde.
Es mag kaum eine Sekunde vergangen sein, nachdem ich die Tür zumachte, als ich meine Maske des Frohsinns und des Verständnis wegschleuderte. So ein Idiot, dachte ich mir. Ich mochte Thomas wirklich, aber in seinen Ansichten war er so fehlgeleitet. Und warum musste er weitermachen? Warum zwang er mich dazu, das zu tun, was ich tat? Ich wollt es nicht so weit kommen lassen, aber nachdem er mir offenbarte, was er bei seiner Lesung vortragen wollte, konnte ich nicht mehr an mich halten. Von meinen kleinen anonymen Sticheleien und harmlosen Drohungen ließ er sich ja nicht beeindrucken. Dann musste ich zu anderen Mitteln greifen. Es tat mir zwar in der Seele weh, da ich Thomas – ich konnte es nur wiederholen – wirklich gernhatte und ich ihm eigentlich Erfolg als Schriftsteller gönnte. Aber ich konnte es auch nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, wenn er Hetze verbreitete. Vielleicht meinte er es ja nicht böse und womöglich hatte er sich auch Gedanken gemacht, dass er das Thema Mohammed-Karikaturen aufgriff. Doch dass gerade Muslime jetzt wieder in Generalverdacht gerieten, müsste ihm ja klar sein. Sicher, er schrieb nur über bestimmte Muslime und auch, was er so postete, bezog sich auf dezidiert konservative, sehr ideologische Gruppen. Aber wenn dies dann der Agenda Rechter diente, wenn auch unfreiwillig, die so etwas dann auch ausschlachten konnten, warum verzichtet man dann nicht einfach auf so etwas? Man sollte auch berücksichtigen, was andere aus einer Sache machen könnten. Wie hätte ich hier tatenlos zusehen können? Ich musste etwas unternehmen.
So setzte ich mich noch zu jener späten Stunde an meinen PC und startete unter meinem Pseudonym einen Aufruf in einschlägigen Gruppen. Ich verwies auf die Lesung. Ich verbreitete ein paar Posts meines Freundes, teilte den vollständigen Namen und ermunterte dazu, in großer Zahl zu kommen. Der Umstand, dass Thomas zumindest in unserer Stadt schon einen gewissen Namen hatte bei Literaturinteressierten spielte mir in die Hände und gewährte mir eine ziemlich gute Chance, dass ein paar Menschen meinem Ruf folgten.
Ich wollte damit sicherlich nicht Thomas Karriere ruinieren. Mir ging es nach wie vor nur darum, ihm nahezubringen, dass er gewisse Meinungen lieber zurückhalten sollte. Wenn er das auf meinem guten Zureden nicht einsehen wollte, so musste man ihm wohl einen Nadelstich zuführen. Nicht sonderlich gefährlich, aber doch etwas schmerzhaft. Besser, er lernte es jetzt, als später, wenn er wirklich im Blickpunkt einer größeren Öffentlichkeit stünde. Das wäre für ihn schlecht, da er als Ziel leichter wäre, aber genauso fatal wäre es, wenn er mit breitere Reichweite seine fragwürdigen Ansichten verbreitete. Ich meinte es letztendlich ja nur gut für alle. Wie konnte man mir meine Intension verübeln?
Tatsächlich waren einige Leute, vornehmlich im jungen Alter, meinem Anliegen gefolgt und haben sich vor der Halle, in dem die Lesung stattfinden sollte, versammelt. Sie standen dort mit Bannern, die „kein Platz für Rassismus“ sagten oder „rechte Schmutzfinke von der Bühne“. Sie sangen schwungvolle Parolen und versuchten zuweilen, auf ein paar Besucher einzureden. Einem Mann riefen sie zu: „Keine Unterstützung für Diskriminierung. Du bist Teil des Problems.“
Mir riefen sie auch etwas zu, doch das war mir egal. Ich war ja nur der Form halber für meinen Freund anwesend, doch war ich zufrieden, dass die Jungen noch die Energie hatten, Moral zu vertreten.
Die Veranstaltung selbst begann dann auch friedlich. Nach einem Vorwort begann Thomas damit, seine Kurzgeschichte zu deklamieren. Die Zuschauerschaft lauschte gebannt. Ich bereitete mich mental davor, meine Entrüstung unterdrücken zu müssen ob des Inhalts, der mir ja auch noch unbekannt war. Doch nach einer Zeit war von draußen her ein Gepolter und ein Tumult zu vernehmen. Alle blickten sich um. Thomas unterbrach seinen Vortrag. Die Tür wurde aufgerissen und eine Gruppe drang lautstark grölend in den Raum, kämpfte sich durch die Reihen des verdutzten Publikums und stürmte auf die Bühne, wo mein Freund entgeistert und völlig erstarrt stand.
Die Saalstürmer drängten Thomas zur Seite und breiteten einen Banner aus: Kunst ist diskriminierungsfrei. Dabei schrien sie Unverständliches, wobei eine Frau Thomas direkt ins Gesicht blaffte. Er zog sich zurück und fuchtelte hilflos herum, irgendwas von der Bühne rufend. Einige Zuschauer standen panisch auf und flüchteten aus dem Tumult. Andere waren noch immer in der Klammer der Verwirrung und saßen starr an Ort und Stelle. Und wiederum andere sprangen auf und schlossen wild gestikulierend den Störern an. Ich selbst betrachtete das Schauspiel gebannt.
Dann geschah etwas, das ich nicht beabsichtigt hatte. Einer der Personen, die sich Zugang zur Bühne verschafft hatten, kam mit Thomas ins Gerangel, als er ihm sein Manuskript aus der Hand reißen wollte. Der Autor wehrte sich mit aller Kraft dagegen und trat dem Angreifer gegen das Bein. Dabei verlor er jedoch die Balance und stürzte von der Bühne. Erschrocken sprang ich auf und eilte zu ihm. Das hatte ich wirklich nicht gewollt. Passiert war ihm zum Glück bis auf einige Prellungen nichts. Die Gruppe war nach diesem Zwischenfall sofort geflohen und lies ihr Protestmaterial achtlos liegen. Etwas später kamen erste Sicherheitskräfte hinzu.
Ein paar Tage nach diesem Vorfall, der Gegenstand nicht nur in der Regionalzeitung war, besuchte ich Thomas.
„Sie meinten, ich soll von diesen Themen ablassen“, offenbarte er mir. „Mein Verlag möchte mit mir noch weiterarbeiten. Aber das Thema ist ihnen zu unsicher und sie haben Angst, dass so etwas nochmal passiert.“
„Das ist ja verständlich“, sagte ich. „Und vielleicht solltest du dich wirklich auf den sozialen Netzwerken etwas zurückhalten.“
„Vielleicht echt besser“. Da war sie endlich, die von mir erwartete Einsicht.
„Ich finde es nur Schade, dass diese Leute nicht mal den ganzen Text hören wollten und mir nur wegen Hörensagen und Munkelei verurteilten, die sie in den sozialen Netzwerken aufgeschnappt haben. Dahinter steckt bestimmt dieses Arschloch. Hätten Sie mir aber erst zugehört, dann wüssten sie, dass ich mich gerade gegen die pauschale Verurteilung von Muslimen ausgesprochen habe und die Propaganda von rechts ebenso kritisiere. Aber warum auch den Kontext berücksichtigen, wenn man sich in so einer selektiven Sicht ergeht? Schlimme Zeiten. Und dann muss man noch damit rechnen, so angegangen zu werden.“
Dann machte Thomas eine kleine Pause, in der er etwas schwermütig dreinblickte. „Tja,“, seufzte er mich an, während ich mich an meinem Sieg labte. „Kontroverse Themen sind halt immer kritisch. Vielleicht etwas schreiben, was halt gefälliger ist. Dann gibt es keine Probleme.“
„Das ist natürlich deine Entscheidung“, antwortete ich. „Du solltest natürlich nur über das schreiben, was du willst. Aber wenn du denkst, dass es dann für dich sicherer ist, dann ist es wohl besser so.“ Ich versuchte dabei, so gut es ging bestürzt zu klingen, nicht, dass er mich noch der Scheinheiligkeit bezichtigte. „Tut mir leid, dass so etwas passiert ist.“ Zufrieden mit ihm und mit mir sah ich ihn mit innerem Lächeln an. Ich war froh darüber, dass er endlich einsah, dass er als Schriftsteller nicht weiter einer gerechten und diskriminierungsfreien Gesellschaft entgegenstehen konnte und Verantwortung übernehmen sollte. Zwar mit meinem Zutun, aber immerhin. Ich konnte ihn auf den richtigen Weg führen. Ich bin halt ein guter Mensch.
Beitragsbild von Gerd Altmann by Pixabay
Der gute Mensch

Deswegen bin ich auch nicht mehr bei FB – abgesehen davon, dass die mich auch komplett rausgeschmissen haben. Und auch nicht bei litter (linkstwitter). Es wird nur noch gebloggt, das reicht. Und selbst meine Minireichweite hat mir schon eine Gefährderansprache beschert. Man kann sich auch so „Freunde“ machen. Besser ein Bulle vom Staatsschutz als zehn von diesen linken FB-Zecken. Wenn schon, denn schon.
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