Erich konnte es kaum glauben. Er hatte tatsächlich ein Match. Das erste in vier Wochen, in denen er sich vergeblich an dieser App versuchte, die Bernd, ein Freund ihm, empfohlen hatte.
„Da sind Dates garantiert“, hatte jener Freund ihm versichert und „ein Match jeden Tag.“
Ha! Von wegen. Erich konnte irgendwann nur bitter darüber lachen, wie professionell er sein Profil erstellt hatte, wie viele interessante Informationen er geteilt hatte, um es den Frauen möglichst einfach zu machen, etwaige Gemeinsamkeiten herauszufinden. Und es hatte dennoch nicht funktioniert. So oft hatte er an seinem Bild gearbeitet, es immer wieder ausgetauscht. Einmal ganz locker posierend in seinem Wohnzimmer, dann mit seiner Katze und schließlich hatte er es noch mit einer Aufnahme versucht, in der er in Vollausrüstung in den Bergen unterwegs war – es sollte ja so wirken, dass sein Leben aufregend war. Jedoch half nichts davon und dabei konnte wahrlich nicht die Rede davon sein, dass er schlecht aussah. Vielleicht war er kein Adonis, aber sein Antlitz war mindestens durchschnittlich und ordentlich. Es war so, als würde seine Schüchternheit, die es ihm auf konventionellen Wege schwierig machte, mit den Damen ins Gespräch zu kommen, eine abstoßende Aura ausstrahlen, die sich sogar noch in die Onlinewelt fraß und bis zu jenen Frauen drang, die sein Profil betrachteten.
Doch jetzt hatte es geklappt. Als die Nachricht an seinem Handydisplay aufploppte, erfüllte ein Strom euphorischer Unsicherheit Erich, der die Frequenz seines Herzens antrieb. Da war sie wieder die dröhnende Pumpe, die beim kleinsten Funken Energie, der Aussicht darauf, mit einer Frau zu reden, übereifrig zu arbeiten begann. Tatsächlich bemerkte er kaum einen Unterschied zu der Nervosität, die ihn erfüllte, wenn er sich der direkten Konversation mit dem anderen Geschlecht von Angesicht zu Angesicht stellen musste. Und so hielt er wie sonst zittrig ein Glas nun sein Mobiltelefon in der Hand und starrte verdutzt, aber durchaus interessiert, das Bild seines Matches an. Sie hieß Melina und war eine junge Frau im Alter von 18, also nur drei Jahre jünger als er. Sie hatte brünettes, schulterlanges Haar, grüne Augen, ein sympathisch rundliches Gesicht und den Mund zu einem formellen Lächeln geformt. Es war kein außergewöhnliches Profilbild, das groß auf spezielle Interessen hinwies. Es gab wenig weiterführende Informationen. Es stand nur da: Hi. Schreib mich doch einfach an.
Bei so wenig Input fragte sich Erich nun, warum er überhaupt ein Like dagelassen hatte. Bereits eine Sekunde später beantworte er sich diese närrische Frage selbst: Natürlich hatte er am Ende nur noch massenweise gelikt in der Hoffnung, dass die statistische Wahrscheinlichkeit irgendwann ihre Arbeit verrichtete. Aber gut: Gemeinsamkeiten ließen sich ohnehin erst im gemeinsamen Austausch herausfinden.
Erich öffnete den Chat, starrte eine Weile auf sein Display und führte ein paar schubartige Überlegungen aus, ohne weitere Worte zu finden. Ihm fiel nichts ein.
Oh verdammt, fluchte er in Gedanken. Reiß dich endlich zusammen. Tipp doch irgendwas. Aber was? Einfach ein Hallo?
Er begann immer wieder mit ein paar Halbsätzen, stoppte und musterte sie argwöhnisch. Dann löschte er das Geschriebene wieder und fing von vorne an, wobei der nächste Zweifel schon bereitstand, um ihn zu hemmen. So ging es eine Weile und schlussendlich entschied er sich dazu, einfach zu tippen: Hi. Schön, dass es mit dem Match geklappt hat. Hast du Lust zu schreiben?
Sicherlich handelte es sich bei diesem Start nicht um die geistreichste Frage, doch wäre damit zumindest ein erster Schritt gemacht. Den Text abzusenden nötigte ihm weitere Überwindung ab, aber letztendlich schaffte er es, seinen Finger auf den Button zu bewegen.
Nun galt es, abzuwarten. Da Erich nicht mehr damit rechnete, sofort eine Rückmeldung zu erhalten – sofern diese überhaupt jemals eintraf – wollte er sein Handy gerade weglegen, als sich bereits eine Antwort in das Chatfenster schob: Hi. Sehr gerne. Es freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Melina.
Die rasche Rückmeldung war etwas überrumpelnd. Zunächst dachte er daran, noch etwas zu warten, bis er in das Gespräch einstieg. Von wegen sich locker geben und so. Aber das kam ihm dann doch zu dumm vor. Warum nicht über den eigenen Schatten springen und einfach machen? Also tippte er: Ich bin Erich. Freut mich auch, dich kennen zu lernen. Ich bin ehrlich gesagt nicht ganz sicher, mit was ich anfangen soll. Mache das mit dem Online Dating noch nicht lang. Was machst du denn so hobbymäßig?
Darauf folgte: Das Übliche halt. Etwas mit Freunden unternehmen. Party, in Bars gehen und so.
Mehr kam nicht. Keine weiteren Ausführungen. Keine Fragen zu seinen eigenen Interessen. Erich schmollte irritiert. Womöglich war sie wie er auch nur ein bisschen schüchtern. Dann könnte die Kommunikation anfänglich etwas komplizierter werden, sich aber ebenso die Chance auf gegenseitiges Verständnis ergeben. Also blieb er dran und versuchte es nochmals: Wie sieht es bei dir aus? Machst du das hier schon lange?
Nein.
Noch prosaischer und einseitiger konnte der Gesprächsverlauf nicht mehr sein und dennoch wollte Erich einen weiteren Anlauf unternehmen. Auch wenn selbst überhaupt keine Vorstellung davon hatte, in welche Richtung sich das ganze Entwickeln sollte, geschweige denn davon, dass er normalerweise der Letzte war, der die Aufgabe übernahm, eine Unterhaltung am Laufen zu halten. Wie schon zuvor erwies sich auch diese Frage als eine Sackgasse: Ich mach was Kaufmännisches.
Enttäuscht ließ Erich seine Mundwinkel herabhängen. Er hatte sich so auf seinen ersten Treffer gefreut, jedoch hatte dies auf solch eine Weise keinen Sinn. Er war ja bereits nicht gerade allzu offen und gegenüber neuen Menschen meist defensiv, aber er schaffte es immerhin von Zeit zu Zeit, sich mit sanfter Peitsche aufzuraffen. Offenkundig bestand von Seiten der Frau allerdings kein Interesse, einen schwungvollen Dialog aufleben zu lassen. Es war ohnehin spät und er war müde. Er hatte es immerhin probiert. Erich klappte sein Mobiltelefon zu, legte es auf seinen Nachtisch und machte die Bettleuchte aus. Er lag eine Weile mit geschlossenen Augen da, im Versuch Schlaf zu finden, als sein Signalton sich bemerkbar machte. Aus seiner Entspannungsphase gerissen, murrte er missmutig und griff nach dem Telefon, um es lautlos zu stellen. Bei der Gelegenheit konnte er gleich einen Blick erhaschen, wer ihn noch kontaktierte. Es war Melina über den App Chat. Sie schrieb: Warum meldest du dich nicht mehr?
Es wäre bei jemanden, mit dem er nur ein paar Zeilen gewechselt hatte, ohnehin egal, wenn er sich gar nicht mehr melden würde, aber da Erich schon immer eine Tendenz zum Überhöflichen hatte, wollte er sich noch diesen kurzen Augenblick für die Wahrheit nehmen. Also tippte er hastig und sorglos mit vielen Fehlern: Ichg habe nicht den eindruck, das du Interesse daran hast zu schreiben. Vielleicht passt es nicht. Wünsche dir aber Viel Erfolg bei der Partnersuche.
Die folgende Antwort kam in übernatürlicher Geschwindigkeit: Warum hast du mich gelikt, wenn du das Match nicht willst?
Von dir geht doch keine Rückmeldung aus auf meine Fragen, hätte Erich am liebsten geschrieben, aber sich mit einer Unbekannten rumzuärgern, war ihm vor allem zu dieser Stunde zu dumm. Er löste das Match auf, stellte seine Hand leise und unternahm den nächsten Anlauf, um einzuschlafen. Aus dem Blickwinkel seiner halboffenen Augen nahm er gerade noch das Aufblinken eines Telefons war. Eigentlich hätte er bis morgen warten sollen, die Nachricht abzurufen, aber die paar Sekunden mehr würden ihn jetzt auch nicht abgehen. Zu seiner Überraschung wurde ihm noch ein Match angezeigt. Wow. Heute läuft es ja, dachte sich Erich. Einen Blick wollte er sofort riskieren. Anschreiben könnte er morgen.
„Also gut, wen…“.
Augenblicklich verschlug es Erich die Sprache. Auf dem Profil seines neuen Treffers war eindeutig Melina zu sehen. Dieselben Haare, die gleichen Gesichtszüge. Noch immer der bekannte aussagelose Text. Aber etwas war anders. Ihr Lächeln. Auf dem Bild waren die Mundwinkel angespannt nach oben gezogen und offenbarten ihre ungepflegten Zähne, die denen einer alten Frau glichen. Wer stellte so ein Bild ein? War das Fake? Ein Scherz? Er konnte sich nicht daran erinnern, so etwas gelikt zu haben und das würde er auch nicht. Auch als jemand, der eher als Sonderling wahrgenommen wurde, hatte er gewisse optische Ansprüche.
Eine Nachricht ging ein: Du wolltest mit mir schreiben. Willst du mich nicht kennenlernen?
Hatte sie mehrere Profile angelegt und er hatte zufällig zwei von ihnen mit „gefällt mir“ bestätigt? Wenn dem so wäre, musste er bei der Wahl künftig unbedingt besser aufpassen. Eine letzte Antwort wollte er ihr noch so halbherzig geben: Ich glaub nicht, dass wir zusammenpassen. Ich Wünsche dir wie gesagt viel Erfolg noch.
Daraufhin löste er auch dieses Match auf. Bald darauf befand sich Erich erneut im Halbschlaf eingeigelt in seiner Decke und versuchte, seine Gedanken herunterzufahren – auch wenn Melinas zweites Profil mit ihrer schockierend veränderten Erscheinung ihm nicht aus dem Kopf ging. Und schon wieder, als seine Lider für eine Sekunde auffuhren, erkannte er das signifikante Leuchten.
„Was für eine Scheiße!“, entfuhr es ihm. Einmal mehr griff er nach seinem Handy, um es ganz auszumachen. Künftig lass ich das Handy aus dem Schlafzimmer am besten gleich draußen.
Auch wenn Erich bereits schläfrig war, kam er nicht darum herum, ein weiteres Match zu registrieren. Drei Treffer an einem Abend. Noch vor wenigen Stunden hätte er jauchzend gejubelt, hätte er solch eine Quote erzielt, aber jetzt überkam ihm ein unangenehmes Gefühl – ja eine gewisse Besorgnis. Die Besorgnis wich einem eisigen Schauer, als er einen weiteren Blick in die App warf und sich seine Befürchtung, die er mit einer Resthoffnung nur als ein hypochondrisches Produkt ausmachte, bewahrheite. Erneut präsentierte sich Melina, die sich noch weiter verändert hatte und mittlerweile einen schrecklichen Eindruck machte. Ihre Gesichtszüge waren im Wesen noch immer wie im ersten Profil, allerdings zu einer hämischen Fratze verzogen. Ihre Wangen erschienen um ein Vielfaches fahler und waren überzogen von einem Netz aus Runzeln und Furchen, wie um Jahre gealtert. Ihre Augen wirkten bedrohlich und auf dem Bildschirm so lebensecht, als befände sie sich direkt vor Erich in seinem Zimmer, um ihn einzuschüchtern. Ihn schüttelte es ob der Boshaftigkeit, die in ihrem Blick stand.
Erich tippte: Las mich endlich in ruhe. Ich warn dich. Ich beschwere mich und lass dich sperren.
Obwohl es in seinem Schlafzimmer nachts relativ kühl war, fing Erich an zu schwitzen, als würde die Sommerhitze des Tages hineinbrennen, was ein Gegensatz zu der Kälte war, die über seine Gänsehaut krabbelte.
Bin ich dir nicht schön genug, kam als Antwort. Schau doch meine anderen Bilder an.
Tatsächlich bemerkte Erich, dass nun mehr Bilder verfügbar waren. Wider besseren Wissens bezwang ihn die Neugier und er wischte sich durch die Galerie durch. Jedes Mal, wenn er ein Bild zur Seite schob, wurde er noch nervöser und schließlich graute es ihn sogar. Melina, welch makabrer Geist mochte sich hinter diesem lieblichen Namen verbergen, der sich solch einen bösen Scherz erlaubt. Auf dem ersten Foto nach ihrem Profilbild posierte sie mit weißen, leeren Augen. Dann lag sie vermeintlich blutbeschmiert – wahrscheinlich war es eher rote Farbe – auf einem Teppich. Als nächstes offenbarte sie ihren knochigen Hüftbereich, der so abgemagert war, als hätte sie seit Wochen gehungert. An der linken Seite klaffte derb eine Wunde, die augenscheinlich ziemlich frisch war, scharlachrot wie sie glänzte. Das konnte nur ein Scherz sein, redete sich Erich ein. Etwas praktische Effektarbeit mit Unterstützung von Photoshop. Anders konnte es nicht sein. Aber es war eine äußerst effektiver Streich. Sollte er darauf abzielen, Unbehagen in ihm hervorzurufen, so verfehlte er dieses Ziel nicht. Erich zitterte am ganzen Körper und bereits das Handy war in seinen gummiartigen Armen ein unermessliches Gewicht. Schließlich entglitt das Telefon seiner Hand, in der jegliche Kraft verschwunden schien. Ein weiteres Licht blinkte auf, aber dieses Mal wollte Erich erst gar nicht sehen, was da hereinkam.
„Lass mich einfach in Ruhe. Lass mich in Ruhe.“ Ununterbrochen flüsterte er diese Worte vor sich hin, seine Augen verstört auf sein Handy geheftet. Just in dem Moment, als er bereits fest der Annahme war, dass sich die Situation nicht verschlimmern konnte, machte sich der Vibrationsalarm bemerkbar. Ein Anruf. Zu dieser Stunde? Es war doch nicht…nein, das war unmöglich. Demonstrativ wandte er sich ab und vergrub sich unter seiner Decke. „Das ist nur ein Traum“, sprach er sich in einem Akt der Verzweiflung zu, wohlwissend, wie törricht dieser Versuch der Realitätsflucht war. Hier unter seiner Decke, abgeschottet vom Rest des Raumes und ohne das blaue Licht, das sich als unheilvolles Fanal etabliert hatte, versuchte er instinktiv wie ein gehetzter Hase im Erdloch Zuflucht zu finden. Gleichwohl war im klar, dass es sinnlos war, sich einfach zurückzuziehen. Es blieb ihm allerdings nicht anderes übrig, als die Nacht zu überstehen und sich morgen um alles zu kümmern. Ja, er würde sofort beim Support anrufen, diese Melina melden und die würden sich dann schon um die Angelegenheit kümmern. Danach würde er mit seinem Freund, der ihn diese App empfohlen hatte, Tacheles reden und dann – und das schwor Erich bei allem, an das er glaubte – wollte er nie, aber wirklich nie wieder solch deine Dating Plattform anrühren. Vorsichtig lugte er aus seiner Decke hervor. Sein Herz raste in der Hoffnung, dass der Terror nun vorbei war. Gleichzeitig rüffelte er sich dafür, so überreagiert zu haben. Diese Frau konnte ihn zwar mit geschmacklosen Bildern quälen, aber woher sollte sie seine Telefonnummer haben?
Und doch ging etwas sehr Seltsames vor sich. Erich hätte sich am liebsten die Seele aus dem Leib geschrien, als er feststellte, dass das Handy weiterhin ohne Unterlass vibrierte. Das konnte nichts Gutes verheißen – in keinem Fall. Entweder musste eine dringliche Nachricht überbracht werden jetzt um ein Uhr früh, was in der Regel nur eine böse Botschaft sein konnte, denn warum sonst wäre um diese Unzeit ein Telefonat erforderlich? Oder es war das, was Erich erst gar nicht aussprechen, ja noch nicht einmal in seine Gedanken aufnehmen wollte. So oder so, er musste den Sachverhalt überprüfen. Er hievte sich aus dem Bett und nahm sein Handy vom Boden. Das grelle Displaylicht brannte in seinen übermüdeten Augen. Nummer unbekannt. Ohne weiter darüber nachzudenken, schaltete er das Telefon endgültig aus.
„Schluss mit dieser Scheiße!“ Dass damit nicht wirklich Schluss war, war ihm allerdings klar. Irgendeine Verrückte war da draußen, die seine Nummer hatte, woher auch immer. Hatte die App ihm einen Virus eingeschleust? Handelte es sich bei dem Ganzen nur um eine grausame Charade irgendwelcher Hacker, die sich auf diese perfide Weise ihre Zeit vertrieben? Oder? Zuerst weigerte er sich, diesen Gedanken ernsthaft in Erwägung zu ziehen, doch kam er nicht darum herum, zu akzeptieren, dass er eine logische Lösung parat hielt. War es Bernd, der der dahintersteckte, der ihn diese App aufschwatzte und sich gerade unter dem Pseudonym Melina verbarg, um sich auf seine Kosten zu amüsieren? Immerhin wusste Bernd, wie Erichs Profil aussah. Das hatte er ihm gezeigt, um ein paar hilfreiche Tipps zu erhalten. Wenn dem so wäre, so könnte Erich ihm nicht verzeihen. Er war für allerhand Späße zu haben, aber diese Aktion übertrat eine Grenze. Morgen würde er seinen Kumpel sofort zur Rede stellen und so oder so musste das Handy gründlich bereinigt werden.
Plötzlich ertönte ein allzu sehr bekannte Glockenton, den Erich am liebsten als Folge seiner Übermüdung betrachtet hätte, als eine akustische Phantasmagorie, die ihm durch den Kopf hallte als Zeichen, dass sein Verstand bereits bis zur Überarbeitung aktiv war. Der Klang wiederholte sich und Erich war sich bewusst, dass das Schellen so real war wie sein Herzrasen, das sich im pulsierenden Wettstreit befand mit den Dolchen, die in Schare von innen gegen seinen Schädel stachen. Jemand klingelte an seiner Tür. Das Klingeln, eigentlich so harmlos und unscheinbar, hallte durch die Räume wie eine Alarmsirene, die schreckliches Unheil ankündete. Erichs Körper vibrierten wie die Seiten einer Violine unter ungeschickten Fingern. Ängstlich sah er sich der Finsternis entgegen, aus der ihm der schrille Ton entgegenschlug, der gewaltsam in sein Ohr drang. Ein ganzes Spiegelkabinett zerbarst unter dem grellen Schall in seinem Schädel und zerriss damit jeden klaren Gedanken in Fetzen. Reines Chaos herrschte in seinem Geist.
Erneut klingelte es. Er wich zurück, bis er mit dem Rücken an seinen Kleiderschrank stieß. Erich wünschte sich, er wäre noch im Zwiespalt zwischen seiner fixen Idee, Bernd spielte ihm so übel mit und dem Gedanken daran, dass da tatsächlich eine Irre vor seiner Haustür stand. Die Wahrheit jedoch war: Er musste sich eingestehen, dass er an die Bernd-Theorie nicht wirklich glaubte und er diese Vermutung nur in dem Versuch aufgestellt hatte, sich ein Stück weit zu beruhigen. Was bliebe ihm noch andere übrig?
Ruf die Polizei, dämmerte es ihm. Ja, das würde er machen. Er aktivierte sein Handy wieder, das unerträglich langsam hochfuhr.
„Beeil dich“, zischte Erich und tappte auf das Gerät, als würde er eine träge Eidechse zum Sprint animieren. Zwischendurch ertönte weitere Male das Klingeln, wobei der Abstand immer kürzer wurde. Erste einige Sekunden, dann nur noch wenige. Schließlich ging das mechanische Gekreische in einen nahezu gleichtönigen Sturm über.
Endlich war die Verbindung da. Hastig wählte Erich den Notruf. Aber was sollte er ihnen sagen? Dass jemand an der Haustür klingelte war sicherlich kein Grund für einen Einsatz. Aber die Bilder. Konnte man solche Widerwärtigkeiten nicht als eine Art indirekte Drohung geltend machen? Egal. Er musste es versuchen. Das Handy wählte und wählte, doch niemand ging ran.
„Verdammt, arbeitet bei den Bullen überhaupt jemand?“
Der Wahlvorgang brach ab, nur damit sogleich Erich wiederum selbst einen Anruf erhielt. Seine triefend nassen Finger nahmen den Anruf an.
„Hallo?“, hauchte er eingeschüchtert. „Wer ist da?“
„Schade, dass du unser Date hast sprengen wollen. Die Polizei rufen? Also wirklich. Aber ich bin schon auf dem Weg.“ Aufgelegt.
Erich hatte noch nie eine Stimme gehört, die so kalt klang und so voller Hass durchzogen war. Und dann die Androhung, dass sie auf dem Weg wäre. Wenn die Entschlossenheit zur bösen Tat in akustisches Gewand gekleidet werden konnte, so wäre die Art und Weise, wie seine geheimnisvolle Stalkerin zu ihm gesprochen hatte, wohl die perfekte Mode dafür. Jetzt war klar: Die Sache war todernst und er musste aus seiner passiven Haltung, zu der er sich in seiner Panik hat verleiten lassen, ausbrechen. Die Zeit zum Handeln war gekommen. Entschieden marschierte Erich in seinen Hobbyraum und griff dort nach einem Baseballschläger. Den hatte er lange nicht mehr benutzt, aber zweckdienlicher als unter diesen Umständen könnte er selbst bei einem Meisterschaftsspiel nicht mehr sein.
Na warte, du Miststück. Dir zeige ich es.
Die Angst verdrängt und mit oberflächlichen, doch vordergründig impulsiven Mut ausgestattet, stapfte Erich zur Haustür.
Dir gebe ich so etwas von auf den Schädel.
Er atmete noch einmal durch, darauf gefasst, dieser Verrückten direkt ins Angesicht zu blicken. Dann riss er die Tür auf und stieß reflexartigen einen Angriffsschrei aus. Mächtig hob sich der Schläger in die Luft, bereit dazu, herabzufahren und Knochen zu zertrümmern. Doch als der Anflug kampfeslustiger Blindheit nachließ, erkannte er, dass niemand dastand, dem sich zu erwehren wäre. Damit gab er sich nicht zufrieden.
Verstecken spielen willst du also auch noch.
Für Außenstehende hätte es wohl einen irritierenden und beängstigenden Eindruck gemacht, hätten sie miterlebt, wie der junge Mann mit dem Baseballschläger an der Schwelle seiner Tür stand, das Schlaggerät erratisch hin und her fuchtelnd, während er frequenzartig schrie: „Komm her, zeig ich!“
Ob durch sein Verhalten Nachbarn aufgeweckt worden wären, war Erich egal. Er rief und rief, entfernte sich einige Schritte von der Tür und sah sich wie ein aufgeschrecktes Reh um. Sein Puls war elektrische Spannung, sein Atem kochender Dampf. Der Kopf eine dröhnende Maschine, die alle klaren Gedanken schredderte und einen wirren Unrat zurücklies.
„Komm her, du verdammtes Drecksstück!“, lies der brüllende Mann es ein weiteres Mal in die Nacht hallen, wobei er mit seinem Schläger einmal wuchtig den Rasen bearbeitete. Noch immer regte sich nichts, von der Frau fehlte jede Spur. Zwar verließ die Anspannung nicht Erichs Körper, aber zumindest fasste er wieder einigermaßen klare Gedanken. Sie war nicht mehr hier. Mitten in der Nacht herum zu wüten, hatte keinen Zweck. Nichts desto trotz, musst er sich schleunigst um die Sache kümmern. Zum Schlafen würde er garantiert nicht mehr kommen, aber das erste was er bei Tagesanbruch machen würde, war, persönlich zur nächsten Polizeistation zu gehen und Anzeige zu erstatten. Damit beschloss er es, gut sein zu lassen.
Das nächste, was der junge Mann erblickte, war jene schreckliche Fratze, die ihn den ganzen Abend über heimsuchte, aber einen weiteren Zerfallsstadium erreicht hatte. Just in dem Moment, als er sich der Tür wieder zuwandte, um zurück ins Haus zu gehen, war sie ihm so nah, dass er selbst im fahlen Mondschein jede Falte, jede Narbe und jedes Wundmal erkennen konnte, die sie auf groteske Weise verunstalteten. Fauliger Atem, von geplagtem Schnaufen hervorgeblasen, zersetzte seine Nasenschleimhaut. Diese Augen, diese furchtbaren Augen, so tot und leer. Es heißt, die Augen wären das Tor zur Seele. Diese Tore waren jedoch unreparierbar eingerissen und die Seele war schon vor ewiger Zeit entschwunden.
„Warum rennst du vor mir weg?“, röchelte es zwischen fauligen Zähnen, aus dem lippenlosen Mund hervor. „Findest du mich nicht schön?“
Die Totengestalt machte einen Schritt auf Erich zu. Dieser zuckte zurück und holte simultan mit seinem Schläger aus, der diese entsetzliche Frau direkt ins Gesicht traf. Ohne Reaktion auf den Schlag setzte sie einen Fuß vor den anderen.
„Zier dich nicht“, zischte sie.
„Lass mich in Ruhe!“
Erich war klar, dass ihr in der Konfrontation nicht beizukommen war. Er ließ den Schläger fallen und rannte davon über die die Straße. Was er dabei nicht registrierte, war der Sportwagen, der viel zu schnell links aus der Allee gerauscht hatte, die zu dieser Wohnsiedlung führte. Allein der grelle Lichtkegel war es, der sich in seine starr aufgerissenen Augen brannte. Ein Knall folgte. Die Wucht des Aufpralls ließ den Flüchtenden durch die Luft segeln. Alles verging zu langsam, als wäre er ein Blatt, das vom Wind in einem tänzelnden Reigen hinfort geweht wurde. Kein Schmerz, auch nicht, als der Leib archaisch auf dem blanken Asphalt aufkam und die Knochen unter dieser Gewalt brachen. Das letzte, was ihm gewahr wurde, war das grauenvolle Gesicht ganz nah an dem seinen. Selbstzufrieden hauchte es ihm ins Ohr: „Jetzt können wir uns endlich kennenlernen.“
Beitragsbild von Gert Altman auf Pixabay
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