Kein Kind der Einsamkeit: Leseprobe 2

Als Thomas und Lena zurück zur Hütte kamen, waren die anderen bereits beim Essen und nahmen um den klapprigen Dreibein-Grill auf dem Rasen und auf rostigen Gartenstühlen Platz. Der Geruch von leicht angebranntem Fleisch lag in der Luft. Zu Thomas Überraschung war auch Lars bereits anwesend. „Schon da? Ich dachte, du kommst erst heute Abend.“
„Hat sich alles schneller erledigen lassen. Deswegen bin ich jetzt schon hier. Ich störe doch nicht? Hey Lena, alles klar?“
„Du siehst so blass aus“, stellte Nina fest.
Thomas erzählte, was sich an den Ruinen ereignet hatte und vor allem Felix äußerste seine Besorgnis lautstark. „Scheiße, das möchte keinem passieren. Ihr habt aber nicht gesagt, dass es Wölfe gibt. Ist das nicht zu unsicher?“
„Bislang gab es auch nie Wölfe hier“, wandte Richard ein.
„Jetzt sei nicht so ne Pussy“, blaffte Marie ihn an. „In der Gruppe greifen uns keine Wölfe an.“
„Hast du ne Ahnung. Abends geh ich bestimmt nicht mehr raus.“
„Also, jetzt beruhigt euch erst einmal“, sagte Thomas. „Ich kann natürlich auch nicht sagen, ob es hier noch mehr Wölfe gibt ok. Aber die Tiere gibt es nun mal. Davon lassen wir uns nicht das Wochenende ruinieren. Wolfangriffe kommen ja wirklich nur sehr selten vor.“
„Und sie hat es erwischt“, entgegnete Felix.
„Ich wurde ja nicht direkt angegriffen“, wandte Lena ein.
„Aber ihr hab es so beschrieben, als wäre das Vieh außer Kontrolle.“
„Das sagte Lena“, antworte Thomas. „Ich habe ehrlich gesagt nur wenig mitgekriegt. Aber hören wir auf, sie auszuquetschen. Das war jetzt ohnehin schon anstrengend genug.“
Er wandte sich mit besorgtem Blick zu Lena und fragte sie: „Wie sieht es aus, möchtest du lieber zurück?“
„Ah nein“, protestierte Marie. „Du bleibst da.“
Thomas wies sie mit einer flüchtigen Handgeste zum Schweigen an.
„Sag nur Bescheid, wenn du willst.“
„Ich würde dich auch fahren“, bot Richard ihr an.
„Dann nimm mich auch gleich mit“, forderte Felix, was von Nina sogleich mit einem tadelnden Blick bedacht würde. In Gedanken verwünschte sie ihn.
„Memme“, ergänzte Marie, was er geflissentlich ignorierte.
„Jetzt hört mal auf, euch zu kabbeln ja.“ Dann wiederholte Thomas seine Frage an Lena.
Sie zauderte zunächst und stimmte zum Bleiben zu. „Es bringt mir ja auch nichts, wenn ich heimgehe. Ich bleibe.“
„Dann bleib ich auch“, murrte Felix missmutig.
„Lasst uns die Laune dadurch nicht verderben.“ Mit ansteckendem Optimismus schaffte es Thomas, die Stimmung der Gruppe zu heben – abgesehen von Felix, der sich verunsichert immer wieder umblickte. Schon bald kehrte auch bei Lena das Lächeln zurück und allmählich gelang es ihr, sich zu entspannen. Dazu trug auch das humoristische, selbstverfasste Gedicht bei, das Thomas rezitierte und das sich um zwei dauerstreitende Mitbewohner einer WG drehte. Währenddessen legte Richard neues Grillgut auf den Rost und Lena aß ein besonders dickes Nackensteak.
Der Tag hatte es sehr eilig und alsbald brach die Dämmerung an. Die Wolkendecke hatte sich weiter verdichtet und es zog eine kühle Brise auf. Als die ersten Tropfen vom Himmel fielen, einigten sich alle, das Beisammensein nach Innen zu verlegen.
Lenas Stimmung verbesserte sich im Laufe des Abends erheblich und der Vorfall vom Nachmittag geriet in den Hintergrund. Sie unterhielten sich ausgelassen und spielten eine Runde Scrabbel, die Lena gewann. Richard hatte eine große Auswahl an Wein, Bier und verschiedene Spirituosen bereitgestellt. Lars brachte einen erlesenen Whisky mit. Es war ein japanischer Whisky, Hibiki. Nachdem Lena gekostet hatte und befand, dass das nicht ihr Getränk war, ging sie lieber zum regionalen Rotwein über. Marie bestand immer wieder darauf, mit ihr anzustoßen und schlug zur späteren Stunde ein Trinkspiel vor, dass sie aber nicht ganz durchzogen.
„Oh scheiße, bin ich besoffen“, lallte Marie nach einiger Zeit. Es war weit nach Mitternacht und ihr Blick war glasig. „Ich kann nicht mehr.“
„Du solltest ins Bett gehen“, sagte Thomas.
„Das geht nicht. Ich muss noch mit Lena trinken. Trinken.“
„Das hast du doch schon. Und morgen könnt ihr ja weitermachen.“
Thomas half Marie sachte auf und führte sie ins Schlafzimmer. Bald darauf kam er zurück.
„Sofort eingeschlafen. Die hat genug.“
„Mir reicht es auch“, sagte Felix. „Wo schlaf ich?“
„Ich würde sagen, dass die, die zuerst ins Bett gehen, sich ins Schlafzimmer legen. Der Rest macht es sich dann auf dem Sofa bequem“, schlug Richard vor, was Felix akzeptierte.
Als sie zu viert waren, unterhielt sich die Gruppe noch eine Zeit lang. Zuerst verabschiedete sich Thomas und kurz darauf – es war drei Uhr – ging auch Nina ins Nachbarzimmer. Als sie die Tür öffnete, konnte man ein röhrendes Schnarchen vernehmen.
„Na toll, Marie schnarcht wieder“, beklagte sich Nina. „Da kann ich nie schlafen.“
„Du kannst hier bleiben, aber ich möchte noch etwas wach bleiben“, entgegnete Lars.
„Wie sieht es bei dir aus?“, fragte er Lena.
„Also, müde bin ich noch nicht.“
„Du kannst also dich aufs Sofa legen, wir sind bestimmt leiser als Marie. Dann geh ich ins Zimmer.“
Nina winkte ab, betrat das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. „Wird schon gehen“, murrte sie.
„Tja, da sind wir jetzt“, sagte Lars.
Lena wurde Zeugin einer der seltenen Momente, in denen er seine Sonnenbrille abnahm. Als sie im dämmrigen Schein der antik patinierten Pendelleuchte über der Sitzgruppe seine Augen musterte, nahm sie seinen stechenden Blick wahr, der eine subtile Traurigkeit in sich barg. Vielleicht war es keine Traurigkeit, sondern vielmehr etwas Grüblerisches, so als würde er rund um die Uhr über all die Sorgen dieser Welt sinnieren.
„Du bleibst also auch noch wach?“, fragte Lena.
„So lange du willst. Ich kann durchaus noch wach bleiben. Außerdem, jetzt wo die anderen weg sind, kann ich mich etwas entspannen. Die sehen das aber nicht so gerne.“
Er nahm ein dunkelgrünes Etui aus seiner Tasche, öffnete es und legte dann einen kleinen Beutel mit grünen Krümeln und Zigarettenpapier auf den Tisch. Lena musste nicht nachfragen, worum es sich dabei handelte. Es wäre nicht der erste in ihrem Bekanntenkreis, der kiffte. Ein wirkliches Problem hatte sie dabei jedoch nie gehabt.
„Es stört dich aber nicht?“, fragt Lars und sie verneinte höflich. Forschend beobachtete sie, wie er seinen Joint vorbereitete.
„Manche verdammen es“, sprach er. „Aber ich sehe da kein Problem. Ich fahre dann nicht, ich tue keinem was. Was soll hier so schlimmer sein als, wenn sich andere zu saufen.“
„Das finde ich auch“ stimmte Lena zu. „Das ist lächerlich. Vor allem, wo ich herkomme, in Bayern. Das ist so scheiße, dass man da so streng vorgeht. Ich würde nicht rauchen, möchte es aber keinem verbieten.“
„Noch nie versucht?“
„Nein, gar nicht.“
„Auch nicht darüber nachgedacht?“
Lena zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ist glaub nicht meins. An einer normalen Zigarette hab ich nur mal gezogen. Fand ich ekelhaft. Ich weiß nicht, ob mir das was gibt.“
„Musst ja nicht.“
Lars war gerade dabei, seinen psychedelischen Klimmstängel anzuzünden.
„Können wir nochmal ein seriöses Thema anschlagen?“, fragte Lars.
„Sicher, warum nicht?“
Lena schenkte sich noch ein Glas Trollinger Lemberger ein. Sie hatte versucht, sich an diesem Abend mit dem Alkohol zurückgehalten, doch nun machte er sich deutlich bemerkbar. Lena changierte – wie es bei ihr typisch war, wenn sie trank – zwischen bleiender Schwere in ihrem Kopf sowie melancholischer Tendenzen und übereuphorisiertem Frohsinn hin und her. Doch Ersteres drohte die Überhand zu nehmen, vor allem im Angesicht dessen, mit welcher Ernsthaftigkeit Lars seine Frage vortrug.
„Worüber willst du reden?“
„Was denkst du wirklich über uns?“
„Über wen?“
„Über uns, unsere Gruppe.“
Lena dachte kurz nach, nahm einen kräftigen Schluck vom Wein und antwortete: „Ich finde euch toll. Ihr seid ne coole Gruppe und ich mag es wirklich, hier mit euch Zeit zu verbringen.“
Lars nickte und fuhr sich über sein stoppeliges Kinn, so als würde er ihr Worte gedanklich mit der Präzision eines Chirurgen zerlegen.
„Sehr oberflächliche Aussage, aber da mach ich dir keinen Vorwurf. Du konntest uns ja bislang noch nicht wirklich kennenlernen. Aber glaub mir, es ist nicht ganz so toll, wie du glaubst.“
„Was meinst du damit?“, fragte sie argwöhnisch. „Und was meinst du mit oberflächlich?“
Lars zog an seinem Stängel und atmete eine fette Schwade aus, die seinen Kopf in dichten Nebel hüllte.
„Nun, du hast doch bestimmt schon gemerkt, dass alle Leute hier in dieser Runde mehr oder weniger Probleme haben.“
Lena zögerte zunächst. „Ja, schon, aber wer hat die nicht?“
„Das streite ich nicht ab, aber glaub mir, es ist nicht so toll. Wenn du so willst, dann haben wir hier nur zweckmäßigen Kontakt zueinander, weil wir sonst nirgends reinpassen. Der Unterschied, ich bin mir darüber wenigstens im Klaren. Die anderen nicht. Vor allem Thomas. Denk einfach mal ehrlich darüber nach.“
„Thomas war aber der erste, der nett zu mir war.“
„Das ist er. Und er ist viel zu nett. Das sollte er aber nicht sein. Er sollte lieber so sein wie Marie, dann müsste er sich nicht verstellen.“
„Thomas hat heute gemeint, er wäre mal ganz anders gewesen. Was meint er damit? Er wollte nicht mehr sagen.“
Lars stieß die nächste Schwade aus. Süßlich betörender Duft drang in Lenas Nase, der etwas an eine frisch gemähte Wiese erinnerte.
„Ich kenne nicht alles aus Thomas Vergangenheit, aber vieles hat er mir anvertraut. Was weißt du bereits?“
„Nun, er hat mir gesagt, besser gezeigt, was ihm seine Eltern angetan haben. Aber ich weiß nicht, was da genau war.“
„Die Details sind auch unwichtig. Wichtig ist nur, dass der Thomas, den du kennengelernt hast, eine völlig anderer ist, als der, der er früher war. Zumindest stellt er sich so dar, als wäre er ein anderer. Ich weiß ein paar Sachen. Hast du gewusst, dass er jemanden ins Koma geschlagen hat?“
Lena schüttelte ungläubig den Kopf.
„Wann war das?“
„Schon länger her. Worauf ich aber hinaus will. Du merkst doch selbst, dass er immer sehr freundlich ist und betont fröhlich sein möchte, auch wenn er wieder mit seinen philosophischen Exkursionen daherkommt. An sich ja nicht schlecht, wenn das ernst gemeint wäre. Aber ich finde, dass sich Thomas etwas vorspielt. Sein Trauma hat er nie überwunden. Er redet sich nur was ein.“
„Und was meinst du damit?“
„Ich meine…“ Lars Augen verfinsterten sich augenblicklich und was er darauf sagte, die Art, der Ton, wie er es sprach, ließ Lena erschaudern.
„…Thomas ist eine Gefahr und eine tickende Zeitbombe.“
Lena leerte ihr Glas und schenkte sich sogleich das nächste ein. Sie wusste nicht, was sie von dem halten sollte, was sie gerade hörte.
„Ach komm, jetzt verarschst du mich, oder?“
Lars Worte klangen so unglaublich, so unlogisch. Worauf wollte er hinaus? Was wollte er mitteilen? Nichts ergab Sinn. Alles, was er sagte, wirkte wie seine eigene Version einer Gruselgeschichte, die sich Protagonisten in einem beliebigen Horrorfilm in solch einer Hütte erzählen würden. Blanke Effekthascherei, doch sie verfehlte ihren Effekt nicht. Wenn Lars sie auf den Arm nahm, dann war er ein verdammt guter Schauspieler, der seine Rolle vortrefflich verkörperte.
„Ich kann mir jetzt nicht vorstellen, dass Thomas gefährlich ist. Kommt, du willst mir jetzt nur ein Märchen erzählen.“ Lena versuchte, ihre Verunsicherung mit einem gekünstelten Kichern zu überspielen.
„Er versucht nur etwas zu kaschieren. Er schleppt noch immer seit Langem seinen Ballast mit sich rum, hat nie damit abgeschlossen und jetzt hält er sich an Marie, an der er herumdoktern und die er verbessern möchte. Völliger Schwachsinn sage ich und vor allem widerspricht er sich laufend selbst.“
„Nun, ich denke jetzt schon, dass Marie einen positiven Einfluss bräuchte. Sie ist schon merkwürdig.“
„Keine Frage“, stimmte Lars zu. „Marie ist kaputt, total. Aber jemand wie Thomas kann da nicht helfen, nur weil er früher selbst so drauf war. Vor allem nicht, wenn er nur eine Rolle spielt. Das kann nicht gut gehen.“
„Das hat er heute zu mir gesagt. Die meisten Menschen spielen sich was vor.“
„Das ist typisch. Er sieht immer das Problematische an anderen, aber dass alles, was er Tag für Tag verkündet, genau auf ihn zutrifft, dafür hat er keinen Blick.“
Lena fehlten die Worte.
„Er meint es vielleicht gut, davon bin ich sogar überzeugt. Aber er geht einen völlig falschen Weg, wenn er ständig nur an anderen herumwerkeln möchte. Abgesehen davon, gibt es keinen positiven Einfluss. Jeder Einfluss auf einen Menschen ist schlecht, da man ihn in seinem Handeln dazu bewegen möchte, was man will, aber nicht zu dem, was die betroffene Person wirklich möchte.“
„Das kann ich jetzt nicht ganz nachvollziehen. Was ist, wenn jemand sich wirklich ständig daneben aufführt wie Marie. Ist es wirklich verkehrt, wenn man versucht, ein bisschen auf ihn einzuwirken.“
„Ja, das ist es. Denn dann geht der grundlegende Effekt ja vom anderen aus. Letztendlich bildet sich die betroffene Person nur ein, dass sie sich ändern möchte und schluckt alles runter. Die wahren Probleme kanalisieren sich nur und irgendwann kommt alles wieder raus und wahrscheinlich dann noch ärger. Es ist nie gut, zu versuchen, einen anderen Menschen zu beeinflussen. Der altbekannte gute Ratschlag ist in Ordnung, aber einen Menschen zum Beispiel innerhalb einer Partnerschaft ändern zu wollen, das ist ein absoluter Fehler. Das erkennt Thomas auch zu Recht gut bei anderen. Aber, dass er Marie selbst nur manipulieren, wie er überhaupt andere manipulieren will und sich hier einredet, dass die betroffene Person das gerade braucht, da widerspricht er sich massiv und er beweist, dass er selbst zu den Menschen gehört, die er immer wieder kritisiert. Letztendlich versucht er auch nur mit Gewalt etwas zu unterdrücken und führt eine Maskerade auf, die im wirklich nicht steht. Er verstellt sich ebenso für andere Menschen, doch das ist ihm nicht klar. Thomas ist ein wandelnder Widerspruch. Und was die anderen betrifft. Ja, im Prinzip haben wir uns ja nur zusammen gefunden, weil wir sonst nirgendwo Anschluss erhalten. Eine reine Zweckgemeinschaft, wenn du so willst.“
So deprimierende Worte hatte Lena zuletzt während der Zeit ihrer Therapie gehört. War es einfach nur die berauschende Wirkung des Zeugs, das Lars konsumierte, was ihn zu solch ernüchternden Aussagen verleitete? Lenas Schädel brummte.
„Warum trefft ihr euch doch?“
„Schwer zu erklären, warum die anderen das machen. Wahrscheinlich nur, um ihre Einsamkeit zu kaschieren. So meinen Sie es zumindest. Ich denke aber, nur, weil man allein ist, ist man nicht einsam.“
„Aber ist das nicht das Gleiche?“
„Keineswegs. Alleine sein bedeutet nur die Abwesenheit von Gesellschaft. Alleine sein ist Selbstaufgabe. Wenn du an dich wirklich glaubst, das machst, was du willst und dich selbst verwirklichst, dann bist du nie alleine. Denn jeder ist sich selbst der beste Freund und im Prinzip der einzige, den er braucht. Aber eben nur, wenn er seine Person auch zur Geltung bringt. Du hast doch einmal gesagt, dass du ein kreatives Loch bei deiner Malerei hattest.“
„Ja, das lief lange Zeit nicht so gut.“
„Und woran glaubst du, lag das?“
Darauf wusste Lena keine Antwort. Angestrengt dachte sie nach, doch es war, als würde Lars bereits tief in ihrem Geist herumwühlen und eben jene Gedanken hervorkehren, die sie längst in den tiefsten Kammern ihres Bewusstseins verstaut hatte.
„Du meinst, du konntest nicht malen, weil du kein Ziel, niemanden an deiner Seite hattest und das dein Leben keine klare Richtung hatte. Aber hast du schon mal darüber nachgedacht, dass diese Gedanken der Orientierungslosigkeit erst dann entstanden sind, weil du das Malen aufgegeben hast. Du machst das gerne, das ist ein wichtiger Teil von dir. Du warst vielleicht nur zu sehr an dem gehaftet, was man von dir erwartet. Klassische Ausbildung, Studium. Aber vielleicht solltest du die Kunst als deinen Lebensweg einschlagen. Wenn du dich mit dem verwirklichst, für das du eine echte Leidenschaft hegst, dann brauchst du keine anderen Menschen. Aber wenn du dann einen findest, den einen, der wirklich zu dir passt, ja, dann ist das die Krönung. Du erinnerst dich ja daran, was ich dir letzte Woche erzählt habe?“
„Nun, gesagt hast du viel.“
„Zum Thema Angst.“
„Dass Angst uns leitet?“
„Ganz genau. Angst hat dich dazu gebracht, dich unserer Gruppe anzuschließen. Aber, man kann Angst auch besiegen. Nicht falsch verstehen, ich möchte dir nicht ausreden, dich weiter mit uns zu treffen. Ich mag dich ja auch. Sei gerne weiter mit dabei. Aber darüber hinaus solltest du auch nicht vergessen, was dich wirklich ausmacht. Denn Angst kann auch zu Überreaktionen führen. Daher auch mein Rätsel damals mit bester Freund und schlimmster Feind. Ich persönlich finde allerdings auch, dass Liebe dann nur entstehen kann, wenn man vollständig zu sich selbst steht und auch gelernt hat, alleine zu leben. Lernt man, alleine zu leben und sich als sein eigener Gott zu sehen – so drück ich es jetzt mal überspitzt aus – dann wird man nie wieder einsam sein und wenn diese Angst vor dem Einsamsein weg ist, dann erst kann man wahre Liebe empfinden. Ansonsten wird es in den typischen Lückenbüsern enden und du wirst immer wieder verletzt werden. Alleinsein ist der beste Weg, um nie einsam zu sein, wenn du so willst. Ich sage dir das, weil ich ja merke, wie du versuchst, mit aller Gewalt Anschluss zu finden. Das solltest du aber nicht derartig forcieren, nur weil du glaubst, einsam zu sein. Denke einfach darüber nach, was du wirklich möchtest.“
Lena schluckte den Klos in ihrem Hals runter. Das, was Lars zu ihr sprach, durchstießen sie wie eine geschärfte Lanze. Sie versuchte klare Gedanken zu fassen, doch mittlerweile hatte sie so viel getrunken, dass es ihr unmöglich schien, das, was sie nun gehört hatte, zu reflektieren. Ihr fiel es nicht auf, aber während den letzten 20 Minuten hatte sie eine weitere halbe Flasche Wein getrunken.
„Warum bist du aber hier?“ Lenas Worte kamen wie ein zähflüssiger Brei aus ihrem Mund hervor. „Hat das mit deinem Bild zu tun? Der Junge, da, der Junge, der im da im Blut kniet.“
„Du hast mein Bild also erkannt. Sehr gut.“
„Was ist mit deinen Eltern passiert?“
Lars Miene verhärtete sich und er senkte den Kopf. „Ach, du hast dir also schon deine Gedanken gemacht?“
„Deine Eltern sind tot.“ Verdammt, das hätte ich nicht sagen sollen. Lena verfluchte sich ob dieser unbedachten Worte. „Tut mir leid. Das kam jetzt ein bisschen dumm, dass ich das sag.“
„Nein“, beschwichtigte Lars ruhig, beinahe gleichgültig. „Ich habe ja gesagt, du sollst auf mich zukommen, wenn du meine Last herausfindest. Deswegen offenbare ich sie so offen. Ja, meine Eltern sind gestorben. Sie wurden ermordet.“
„Wer war es?“
„Der Täter wurde nie gefunden. Das einzige, was ich in Erinnerung haben werde, ist, dass meine Eltern hingeschlachtet wurden und niemand dafür zur Rechenschaft gezogen wurde.“
Lena, die bereits eine weitere Flasche geöffnet hatte, nahm den nächsten Schluck und leerte das Glas auf einem Zug.
„Das ist schrecklich. Es tut mir so leid.“ Eine Träne rang ihre gerötete Wange entlang. Ein sonderbares Gefühl mitleidiger Traurigkeit erfüllte sie – war es sonderbar, angesichts dessen, was ihr gerade anvertraut wurde? „Es tut mir leid“, wiederholt sie.
„Bitte, du musst mich nicht bemitleiden. Das ist schon lange her. Mir geht es gut, aber ja, das ist meine Angst, die mich von Zeit zu Zeit doch noch plagt.“
„Deine Angst? Das verstehe ich nicht ganz. Angst vor was? Dass der Täter nie gefunden wird? Dass der Mörder wieder kommt?“
„Angst, dass ich meine Eltern nie wieder sehe.“
„Was?“ Sie verstand es nicht. Was wollte er ihr mitteilen? Lena war verwirrt und sie wusste sie nicht, was schwerer auf ihr lag. Der Rausch oder der Ballast von Lars trübsinnigen Ausführungen, die wie eine Schattenhand jedes freudige Licht erstickten. Was meinte er, dass er seine Eltern nie wieder sieht? Natürlich wird er sie nie wieder sehen.
„Warum bist du in der Gruppe Lars?“
„Langeweile.“ Das sagte er mit einer Emotionslosigkeit, die beinahe erschreckend war.
„Ich weiß, das hört sich jetzt ein bisschen so an, als wären mir die anderen egal“, ergänzte er. „Aber ich bin hier, weil es unterhaltsam ist. Es vertreibt die Langeweile. Ich denke, das ist ein legitimer Grund, Kontakt zu anderen Menschen zu halten. Und so lange man sich immer bewusst ist, was man macht, woran man bei bestimmten Menschen ist. Und solange man sich gewahr ist, wie eine Beziehung genau aussehen soll, solange geht es auch in Ordnung. Klar, ich weiß, dass in unserer Gruppe basiert auf Oberflächlichkeiten. Aber ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich meine Gründe habe, dass ich mich mit diesen Menschen treffe. Und ich kann dir sagen, dass sie mir nicht egal sind. Ich habe sogar großes Interesse an ihnen.“
„Gib mir was!“, forderte Lena.
Lars hob fragend die Augenbrauen. „Was meinst du?“
„Ich will auch ziehen, ich probier es mal.“
„Sicher, dass das noch drinnen ist.“
„Gib mir“, wiederholte sie ruppig.
Lars reichte ihr den Klimmstängel und sagte. „Sei aber vorsichtig. Mach nicht zu arg.“
Lena zog an und sog den Kuss eines Drachen in sich auf. Er brannte und zersetzte ihre Lungen. Der scheußliche Geschmack von Nikotin und verbranntem Holz setzte sich an Gaumen und Zunge fest, raubte ihr den Atem. Sie hustete, spuckte den ätzenden Qualm aus. Speichel lief aus ihren Mundwinkeln das Kinn herab.
„Alles in Ordnung?“, frage Lars.
„Nein.“
Ruckartig stand Lena auf, sie stolperte und erbrach sie auf dem Boden. Dreimal.
„Ach verdammt. Das wollte ich jetzt wirklich nicht. Alles gut?“
Lena lag rücklings am Boden mit geschlossenen Augen und röchelte. „Ja, passt, passt.“
„Das ist jetzt wirklich dumm gelaufen. Ich glaube, wir machen jetzt besser Schluss.“
Lars schaffte es nur mit Mühe, Lena aufzuheben und auf das Sofa zu betten.
„Komm, ein letztes Mal aufstehen“, sprach er ihr zu, doch sie reagierte nicht auf ihn. Zusammenhangloses Gestammel folgte stattdessen.
„Ich sehe schon, das ist wirklich nichts für dich. Noch nicht. Also, du, ich bin ja am Sofa nebenan. Sag ruhig, wenn was ist. Ok?“ Lena nahm ihn schon gar nicht mehr wahr.
„Und ich wische den Dreck noch auf, dann mach ich mal auch Schluss.“
Lena stöhnte auf. Ihr war noch immer übel und in ihrem Rachen versuchte, eine Horde Ratten sich nach außen zu kratzen.
„Tja, es kann schon hart sein für Anfänger“, merkte Lars an, während er den Boden mit einem Lappen reinigte, den er aus der Küche brachte.
„Ein Versuch war es Wert“, entgegnete Lena. Mit geschlossenen Augen lag sie da und wälzte ihren Kopf bleiern umher. Ihr Gesicht war knallrot, so als würde ihr gesamtes Blut schlagartig in ihren Kopf strömen.
„Nun gut, du hast aber auch viel getrunken. Morgen kannst du dich ausruhen.“
Der Schlaf schlug schnell zu, gleich eines Attentäters, der die Unaufmerksamkeit seines nächsten Opfers zunutze machte und seinen Streich rasch ausführte. Kaum, dass Lena ihre Augen schloss, begann sie bereits in jene Welten abzugleiten, die ein jeder Mensch Nacht für Nacht bereiste und an die sich nur die wenigsten bis ins Detail zu erinnern vermochten. Lena hatte bislang so gut wie nie Erinnerungen an ihre Träume, doch in jener Nacht nahm sie jedes einzelne Bild wahr. Realistisch, so als, ob sie direkt dabei wäre. Ein Film ohne Leinwand, der sich um sie herum abspielte. Sie befand sich in den staubigen Straßen einer orientalisch-mittelalterlich wirkenden Stadt. Orientierungslos irrte sie durch die verwinkelten Gassen, zu deren beiden Seiten sich wuchtige Bauten aus beige-erdbraunen Sandsteinen dem Ascheschleier entgegen empor hoben, der sich unheilschwanger über diesen Ort legte, der von der Hoffnung bereits vor Ewigkeiten verlassen war. Sie bahnte sich ihren Weg durch die lethargisch vor sich hin marschierenden Massen von Menschen, die im gleichförmigen Trott und in zerlumpten Gewändern durch die Straßen wandelten und bedrückende Klagelaute Gebets-förmig ausstießen. Ihre Augen waren leer, ihre Gesichter ausgemergelt und fahl, mehr eines Toten gleich den eines Lebenden. Aus diesem Festzug der Verzweiflung ragte Lena heraus wie eine Oase in der lebensfeindlichsten Wüste. Doch niemand beachtete sie. Niemand erhörte ihre Worte, als sie sich erkunden wollte, an welchem Ort sie war. Eine unermessliche Zeit später, die sie dem Menschenzug folgte, der sich unentwegt in seinem Wehklagen erging, gelangte Lena an einen Marktplatz. Eine Prozession hatte sich bereits um das Zentrum des Platzes versammelt. Auf Knien stammelnd hoben die bemitleidenswerten Gestalten ihre blutigen und geschundenen Hände flehend nach oben. Und sie riefen: „Logarius“.
Sie riefen dieses Wort (war es ein Name?) immer wieder und wieder und wieder. Immer mehr Menschen strömten auf den Platz und stürzten zu Boden. Viele waren im besten Falle als verwahrlost zu bezeichnen, einige krochen mit der letzten ihnen verbleibenden Kraft über den rissigen Lehmboden und schürften ihre Hände auf. An Lena zog sich eine alte Frau mit ihren knochigen Fingern über den Boden. Ihr Rücken offenbarte eine klaffende Wunde, in der Maden, Fleischfliegen und Spinnen ein reichhaltiges Bankett abhielten.
„Logarius“, rief die Alte krächzend. Blut rann ihr dabei aus dem Mund über das Kinn.
Augenblicklich wurde der schwarz-gräuliche Himmel von einem urgewaltigen, bedrohlichen Grollen durchrissen. Mysteriöses Licht in einer unbekannten Farbe, die Lena noch nie gesehen hatte, durchschnitt den Schleier wie eine Schere Satinband. Mit dem grünen Leuchten begann das Sterben um Lena herum. Körper zerfielen in ihre Bestandteile. Gequälte Schreie vermengten sich mit dem Zischen der sich zersetzenden Leibern, deren Fleisch von einer unsichtbaren Macht regelrecht zerfetzt wurden. Kochende Blutbäche tränkten den Marktplatz in Scharlachrot und inmitten befand sich Lena. Der brodelnde Lebenssaft verbrühte ihre Füße. Sie wollte gehen, doch etwas hielt sie zurück. Als Lena herabsah erblicke sie die bösartig grinsende Reptilienfratze, die sie aus den blutigen Tiefen anstarrte. Sie erkannte die Gestalt. Es war einer jener steinerner Wächter der Burgruine, zu der Thomas sie geführt hatte. Ihre Zunge packte Lena mit animalischer Kraft an ihren Beinen und zog sie mühelos herab. Lena versank, wurde immer tiefer gezogen und das heiße Blut schälte ihr die Haut ab. Sie versuchte zu schreien. Ihre Schreie verstummten. Und aus den Untiefen erklang: „Logarius. Logarius“. Jemand packte sie mit festem Griff an der Schulter. Lena drehte sich um und sah sich dem deformierten Antlitz einer hautlosen, halb menschlichen Kreatur gegenüber. Ihr Gesicht war nicht mehr als ein verrottender Kadaver, der sich in einem Vorgang der Entropie auflöste. „Lena“, röchelte sie, gerade noch so, bevor sich die Zunge löste und sich der Unterkiefer vollständig entfernte. Lena schrie angewidert auf, als sich der fleischige Arm auflöste und allein die skelettierte Hand an ihren Schultern zurückblieb. Noch bevor diese Monstrosität vollends in den blutroten Schlund gezogen wurde, war sie bereits vollständig dekonstruiert in Fasern und Fleischfetzen, die im unbarmherzigen Sog dieser dämonischen Sintflut wie Schmutz hinfort gespült wurden.
Und wieder: „Logarius. Logarius. Logarius.“
Und als ob bei einer Diashow von einem Bild auf das andere gewechselt wird, änderte sich die Szene schlagartig. Lenas Wahrnehmung hatte sich vollkommen verschoben und stand auf dem Kopf. Sie konnte sich erinnern, dass sie gerade noch mit Lars gesprochen hatte. Jedes einzelne seiner Worte, die wie ein gefräßiges Gewürm in ihr nagten, wusste sie noch. Dann ihr Traum und nun, ja, wo war sie?
Lenas Kleidung war durchnässt. Sie fröstelte. In der Dunkelheit ertastete sie mit ihrer Hand weiches Gras. Sanfte Regentropfen benetzten ihr Haar. Verdammt, wo bin ich?
Lenas Glieder und auch ihr Schädel schmerzten, sie fühlte sich unterkühlt. Allmählich dämmerte es ihr, dass sie sich im Freien befand. Wie bin ich hier hergekommen?
Im klaren Licht des Mondscheins nahm sie die schemenhaften Bäume wahr, die dirigiert durch die zarten Wogen des Nachtwindes ihr Orchester aus dem Knacken der Äste und dem Rascheln der Blätter spielten. Doch von der Hütte war nichts zu sehen. Lena erschauderte. Verwirrung und Panik ergriffen sie zur gleichen Zeit als sie erkannte, dass sie sich inmitten des Waldes befand. Wie bin ich hier hergekommen? Wie lange bin ich hier?
Sie rappelte sich auf, konnte sich jedoch nur unter größten Anstrengungen auf den Beinen halten. Sie benötigte drei Anläufe, bis sie die ersten vollständigen Schritte unternehmen konnte. Ihre Kehle war ausgetrocknet, als hätte sie einen ganzen Tag im Hochsommer ohne Wasser verbracht. Bitterkeit legte sich auf ihre Zunge und ihre Hände zitterten wie die Saiten einer Violine, die von ungeschickter Hand gespielt wurde.
„Ganz ruhig Lena“, sprach sie sich zu und versuchte dabei irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, der ihr zumindest etwas darüber verriet, wohin es sie verschlagen hatte. Vielleicht war sie ja nicht so weit weg von der Hütte. Sie konnte rufen. Aber die anderen würden tief und fest schlafen. Wer würde sie hören, außer – und der nächste Schauer fuhr ihr über den Rücken – ein Wolf. Als es ihr in den Sinn kam, dass sie hier alleine im Wald war, in der Nacht und ohne Wissen, wie sie hier herkam, in einem Wald, in dem Sie am gleichen Tag noch von einem Wolf attackiert wurde, da fühlte sie sich so hilflos wie selten in ihrem Leben. Sie verfluchte Lars und sein komisches Zeug. Doch wie sollte sie ihn verdammen. Sie wollte es selbst versuchen. Sie hatte sich auf etwas Neues eingelassen und das war nun die Bescherung.
Ohne, dass sie bereits klar denken konnte, trottete Lena taumelnd durch die Bäume, drehte sich um ihre Achse, versuchte einen vertrauten Ankerpunkt zu finden. Es war hoffnungslos. Immer wieder kratzte Geäst durch ihr Gesicht und zogen mit ihren gierigen Fingern Striemen über Lenas Wange. Auch, wenn es eine laue Frühlingsnacht war, so fühlte sich ihr Körper an, als hätte sie die Nacht im tiefsten Wintersturm verbracht. Kalt, so unsagbar kalt. Am ganzen Körper stellten sich die Haare auf, ihr Leib erbebte.
„Hallo, jemand da“, sprach sie schwach der Finsternis entgegen, die nur sporadisch vom Mondlicht vertrieben wurde. Lenas Beine gaben nach, ihre Reflexe reichten überraschenderweise jedoch aus, dass sie sich mit den Händen noch abfangen konnte. Sie schrie erschrocken auf, als sie in einen Strauch Brennnesseln fasste. Verdammte Scheiße.
Sie biss sich auf die Lippen und versuchte, das unangenehme Brennen zu verdrängen.
„Hey, hört mich jemand?“, rief sie erneut. „Wo bin ich?“ Ihre vorhergehenden Bedenken, sich ob möglicher Gefahren für wilde Tiere bemerkbar zu machen, waren so rasch weggeblasen. Lena wollte nur zurück. Über ihr zogen zwei Eulen ihre Bahnen. Während die Vögel ihre Runden auf der Jagd zogen, beobachteten sie vergnügt das junge Mädchen, das sich so hilflos daher schleppte und riefen ihr ein spöttisches „Huhu“ zu.
Lena verlor jegliches Zeitgefühl und konnte nur grob abschätzen, welche Uhrzeit es hatte. Doch der Mond thronte noch immer am Zenit des klaren Himmelszeltes, das von abertausenden Sternen übersät war. Der Morgen ließ noch lange auf sich warten. Es war, als würde Lena die ganze Nacht hindurch wandern. Stunde um Stunde und als sie glaubte, den längsten Gewaltmarsch ihres Lebens hinter sich gebracht zu haben, sah sie, wie sich ein greller Schein durch die grotesk verformten Baumreihen hindurch kämpfte. Licht. Klares Licht. Es geht raus aus dem Wald.
Zielstrebig wankte Lena auf den Lichtkegel zu. Sie erkannte, dass sich die Baumreihen lichteten und beschleunigte ihren Schritt. Ihr Herz pochte irrsinnig, möglicherweise angespornt von der unerträglichen Anspannung, doch ebenso von freudiger Erleichterung. Sie widerstand dem Schmerz in ihren Gelenken und stampfte weiter, ignorierte die glühenden Nadelstiche, die ihr jedes Mal in die Glieder fuhren, wenn sie mit einem Fuß aufsetzte. Ich bin die Herrin über meinen Körper.
Sie erreichte das Ende des Waldes, doch kaum trat das einsame Mädchen ins Freie, wurde ihre Euphorie mit einem brutalen Schlag niedergeschmettert, als sie registrierte, wo sie sich befand. Die Konturen der wuchtigen Mauern verrieten es eindeutig. So faszinierend das alte Bollwerk trotz seines desolaten Zustandes war, so furchterregend und einschüchternd präsentierte es sich nun in der Dunkelheit. Die Burg war ein gewaltiges Ungetüm, das aus den tiefsten Schatten herausragte und sich mit einem Drohgebaren aufrichtete, bereit mit Steinhagel und donnerndem Getöse anzugreifen.
Ich finde nie zurück. Ich finde nie zurück. Und keiner findet mich hier. Nein, hör auf Lena. Du schaffst das. Du schaffst das.
Lena versuchte ihre gesamte Konzentration aufzubringen und überlegte angestrengt, wo sie am Nachmittag mit Thomas entlang gegangen war. Doch es sah alles gleich aus. Kein nennenswertes Merkmal, kein auffälliger Anhaltspunkt. Sie war Gefangene eines Labyrinthes, in dessen Herzen kein Minotaurus hauste, sondern jene felsige Kreatur, die bereits Jahrhunderte überdauerte. Ein Riese, der längst verweste und doch noch voller Leben schien. Ein Monster, das sie stumm beobachtete. Ein Fürst des Waldes, der trotz seines Alters gebieterisch über diesen Forst wachte. Sie war ein Eindringling im Land des Fürsten und sollte auf die Knie gehen, um Verzeihung zu erbeten. Der Wind jagte heulend um die Zinnen. Kleine Steine bröckelten vom Turm herab. Aus der unförmigen Mauerlücke heraus drang ein Geräusch, dass sich wie das Klappern einer kleinen Holztür anhörte, die andauernd auf und zu geschlagen wurden. Scharniere quietschten, Ketten rasselten. Das Burgmonster grummelte vor sich hin, Geister der Vergangenheit berieten sich, was mit dem kleinen Eindringling geschehen sollte. Sie befahlen ihr, näherzutreten.
Die Kluft des Mauerwerks weitete sich wie der Schlund eines Wals und stimmte eine betörende Symphonie an. Die Schatten sangen Lena zu und wiesen sie an, einzutreten. Das unbändige Bedürfnis, dem nachzugeben, ergriff sie. Sie war besessen von einer merkwürdigen Neugier, die jede Vernunft auf das unerbittlichste bekämpfte.
„Nein, ich will nicht“, wisperte Lena vor sich hin, während sie sich mit verkrampften Schritten von einer unbekannten Kraft anschieben ließ, die das einsame Mädchen begierig in den Innenhof drängte. Lena trat über die Schwelle.
„Leben“, hauchte ihr eine geplagte Stimme ins Ohr, kalt und leblos wie die Einöden der Arktis und gleichzeitig hart und herzlos als könnten die Worte nur von einem versierten Foltermeister stammen oder von jemandem, der selbst tausend Qualen durchlebt hatte. Die Worte umfingen sie wie der Atem eines Eistitanen.
„Dein Leben.“
„Nein, lasst mich“, rief Lena. Sie schlug in epileptischer Wahllosigkeit blindlings in die Luft und schrie kreischend auf. Der Stoß, der folgte, raubte ihr die Luft. Augenblicklich presste sich ihr Magen krampfhaft zusammen. Sie stürzte. Ihre Brust stand kurz vor dem Bersten.
„Du darfst leben. Warum dürfen wir nicht leben“, gab das Flüstern aus dem Nichts von sich. Eine unsichtbare Macht legte ihre Pranken gnadenlos um Lenas Kehle und quetschte ihr das Leben heraus. Lena stöhnte, keuchte und wehrte sich vergeblich.
„Warum dürfen wir nicht leben.“ Dieses Mal war die Stimme klar und sie hatte einen Körper. Ein kleiner Junge stand neben Lena, die sich am Boden wand und aussichtslos versuchte, ihrem mysteriösen Angreifer zu entkommen. Der Junge beugte sich zu hier herab und zeigte seine abscheuliche Erscheinung. Das missgebildete Gesicht hatte in seiner widerwärtigen Pracht kaum mehr menschliche Züge und war mehr eine willkürliche Ansammlung von Knorpeln, Knochen und Fleisch. Sein fauliger Atem stach wie ein geschärfter Dolch in die Nase. Aus gräulich, blauen Metastasen tropften sich in explosionsartigen Quellen ergehende Blut- und Schleimbäche auf Lenas vom nackten Grauen verzerrtes Gesicht, wo sie wie heißes Wachs brannten und sich sogleich verhärteten.
Eine weitere Gestalt gesellte sich dazu. Sie kam auf vier Pfoten, ebenso obszön unansehnlich. Es war ein Wolf, DER Wolf. Nur noch sein Gesicht war zur Gänze, der fleischig-blutige Rest war die Kleidung, wie sie die Legionen aus dem Grab trugen.
„Lasst mich“, versuchte Lena hervorzubringen, doch ihre Stimme versiegte in der sich anbahnenden Bewusstlosigkeit. Der steinerne Herr des Waldes hatte sein Urteil gefällt und es traf Lena mit schneidenden Krallen und reißenden Zähnen. Höhnend blickte das Monstrum mit flammend leuchtenden Augen auf sie herab. In Ekstase seiner Erregung zersprang seine Haut, seine Krone brach und die Bruchstücke stürzten als wuchtige Trümmer herab.

3 Kommentare zu „Kein Kind der Einsamkeit: Leseprobe 2

Gib deinen ab

  1. Alles gut geschrieben Christian, Inhalt, Gehalt und auch der Schreibstil. Erinnert einen etwas an die Gebrüder Grimm, an alte Märchen. Bestimmt werden in der nahen Zukunft andere Schriftsteller und/oder Verlage auf Ihren Blog aufmerksam werden. Ich glaube daran, dass ich irgendwann ein Buch von Ihnen kaufen werde. Den ersten Käufer haben Sie schon. Machen Sie sich keine Sorgen. Ihr Traum Schriftsteller zu werden, wird sich bestimmt verwirklichen.

    Ich habe Ihnen in einer Antwort geschrieben, ich glaube es war die, die Sie nicht freigeschaltet haben, dass ich auch einen Text geschrieben habe, den Sie hier finden können(https://bit.ly/35uzcQD). Ihre Meinung dazu würde mich wirklich interessieren.

    Apropos „nicht freigeschalteter Kommentar“. Im Nachhinein bin dankbar dafür, dass Sie ihn nicht freigeschaltet haben, da hatte ich nämlich einen ganz schlechten Tag und unangenehme Begegnungen mit Frau M’s Neubürgern sind vorausgegangen. Die Wut hat sich dann etwas verbal verselbstständigt.

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  2. Noch was. Ich bin keine Schriftstellerin, aber es fehlen, bei einem so langen Text, meines Erachtens ein paar mehr Absätze, man braucht Pausen, um das vorherige zu verarbeiten, vielleicht auch ein oder zwei kurze Überschriften, habe ich vermisst.

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    1. Hallo. Vielen Dank für Ihre Antwort und den Link zum Text, den ich mir auf jeden Fall am Wochenende durchlese. Und vielen Dank für die guten Zusprüche, ich bleibe auf jeden Fall dran. Sollte jeder, der ein Ziel verfolgt. Ich war jetzt nur nicht sicher, um welchen Kommentar es ging. Ich habe allerdings die Freigabe ausgeschaltet und interveniere nur bei sehr groben persönlichen Verletzungen oder strafrechtlich Relevantem, weil ich schlicht als Liberaler jede Meinung stehen lassen möchte. Wenn aber gewünscht, dann werde ich den Kommentar entfernen. Bezüglich der Sache mit den Absätzen und den Zwischenüberschriften: Das mach ich ja bei den Sachtexten, wo ich auch mit Bildern arbeite. Aber bei den Geschichten soll es quasi in der Form bleiben, wie es auch in einem Buch wäre. Darum kommen dort auch keine Bilder in den Text.

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