Davon, dass meine Schwester und ich uns sonderlich mochten, konnte wahrlich nicht die Rede sein. Um nicht zu sagen, hassten wir uns bis aufs Blut und das seit Kindheit an. Dabei könnte man meinen, dass die Umstände unserer Geburt, diese Besonderheit, die uns widerfuhr, solch eine Bande zwischen uns knüpfte, sodass wir uns in Einigkeit und Wertschätzung begegnen sollten. Denn wir waren Zwillinge und zwar nicht eine gewöhnliche Art von Zwillingen. Eine spezielle Laune der Natur hatte dafür gesorgt, dass eine Eizelle unserer Mutter von zwei verschiedenen Spermien befruchtet wurde. Dies führte dazu, dass wir als zweigeschlechtliche Embryonen im Mutterleib heranwuchsen, dabei dennoch das gleiche Erbgut teilten und letztendlich als eineiige Zwillinge zur Welt kamen. Ein Vorkommnis, das in seiner Seltenheit noch die von überlebensfähigen Siamesen übertraf.
Aber wie ich bereits andeutete, trug dies nicht dazu bei, dass sich geschwisterliche Zuneigung zwischen Katharina und mir entwickelte. Vielmehr bestand die Zeit, in der wir in unserem gutbürgerlichen Elternhaus aufwuchsen aus einer Aneinanderreihung von Angriffen gegen unsere jeweilige Person.
Als Kleinkinder bissen und schlugen wir uns – zumindest erzählte man dies uns so. Erinnern konnten wir uns freilich nicht mehr. Als wir laufen und sprechen lernten und unsere feinere Motorik uns neue Möglichkeiten eröffnete, mit unserer Umwelt zu interagieren, nahmen die Attacken, die sich zunächst in Form von wüsten, aber noch nicht allzu bedenklichen Streichen zeigten, mit zunehmendem Alter in Häufigkeit und Intensität zu. Schmierte sie mir Leim ins Haar, setzte ich ihr eine ekelhafte Spinne auf den Kopf, was Katharina so sehr in Aufruhr versetzte, dass sie stürzte. Würzte ich hingegen ihre Mahlzeit mit einer Prise Bhut Jolokia Chili, was ihr Gesicht so rot anlaufen lief, dass es ans Komikhafte grenzte, erwiderte sie diese Tat damit, dass sie mit einer übel juckenden Substanz meinen besten Anzug besudelte.
Dies bewegte sich offenkundig noch auf dem Level von einfachen Schelmereien, was sich jedoch änderte, als wir das Jugendalter erreichten und unsere Abneigung zueinander uns veranlasste, Aktionen durchzuführen, die durchaus dazu geeignet waren, zu physischen Beeinträchtigungen oder seelischen Verletzungen zu führen. Sie manipulierte mein Fahrrad, sodass es bei der nächsten Gelegenheit, als ich in voller Fahrt den Abhang herabsauste, auseinanderfiel. Ich vergalt es meinem ach so liebreizenden Schwesterherz damit, dass ich sie durch geschicktes Intrigenspiel mit ihrer ersten großen Liebe auseinanderbrachte. Dies war ein Triumph, den ich noch lange kostete. Wie gewahr sind mir die Wochen noch, in denen die Tränen täglich flossen und das aus gebrochenen Herzen geborene Schluchzen für mich einer Symphonie glich, mit der es nicht einmal der große Beethoven aufnehmen konnte.
In dem Schmieden von Ränken war mein Schwesterlein jedoch ebenso geschickt wie ich und so war es letztendlich keine Überraschung – und ich sah es beinahe schon direkt so kommen – als mein bester Freund seit Grundschultagen in blanker Verachtung mit mir brach. Oh Katharina. Diese Wesen von entzückendem Anblick, doch innerlich so verdorben – ich kam nicht darum herum, heimlich meine Anerkennung zu bezeugen über die Art und Weise, wie ihr dieses Meisterstück der gehobenen Zwietracht gelungen ist, doch war ich fest entschlossen, ihr den Lohn, sich an meinen offen zur Schau gestellten Gefühlen zu laben, zu verweigern. Stattdessen ruinierte ich meiner Zwillingsschwester noch ihre Bestrebungen, eine Ferientätigkeit zu ergattern, auf dass sie in den Augen unserer Eltern als unfähig und verantwortungslos erscheinen mochte.
Nun könnte ich an dieser Stelle noch viele weitere mehr oder weniger schändliche Taten aufzählen, die wir uns zufügten, doch belassen wir es dabei, es damit zusammenzufassen, dass wir uns keinen Moment der Ruhe gönnten und infolge dessen auch den ganzen Hausstand in den Zustand nagender Enervierung versetzten. Warum wir uns dies antaten? Wenn ich das so wirklich sagen könnte. Vielleicht lag es an einem schleichenden Unbehagen tief in mir, das an meiner Seele nagte, wenn ich meiner Schwester in die Augen blickte und genau in meine Augen sah, in meine Gesichtszüge in feminin leicht abgeänderter Form – das Wissen, dass in dieser Welt eine weibliche Karikatur meiner Person existierte. Und womöglich erging es Katharina ebenso. Doch dies war nur eine Vermutung meinerseits.
Letztendlich zogen unsere werten Eltern die Konsequenz und übermittelten uns an zwei Internate, die an entgegengesetzten Enden des Landes lagen, sodass Katharina und ich uns nur noch in den Ferienzeiten zu Gesicht bekamen.
Mit der Zeit ließen unsere opponierende Umtriebe gegeneinander im Umkreise unseres Elternhauses nach, sehr zur Erleichterung unseres Vaters und unserer Mutter, was aber nicht hieß, dass auf einen Schlag und aus unerfindlichen Gründen irgendeine Art von Sympathie zwischen uns entstanden wäre. Im Gegenteil. Die Reife im Alter kurz vor der Volljährigkeit hatte in mir die Erkenntnis wachsen lassen, dass der ewige Geschwisterzwist nicht unbedingt weiterhin zu Lasten derer stattfinden sollte, die uns das Leben geschenkt hatten. Auch wenn ich meine Eltern sehr liebte und ihnen doch etwas Kummer ersparen wollte – nichts desto trotz hasste ich Katharina mit unbändiger Leidenschaft und ihre bösartigen, falsch wie Katzengold funkelnden Augen, verrieten, dass sie mir gleichwohl das schlimmste Unheil an den Hals wünschte.
Nach unserem Abschluss brach die Zeit an, das Haus, in dem wir aufgewachsen sind, zu verlassen. Katharina und ich erlangten einen respektablen Grad an Bildung und in Folge dessen gelang es uns beiden, eine hochdotierte Anstellung in zwei renommierten Banken zu erhalten. Natürlich missfiel es mir, dass ihr ebenso wie mir Erfolg vergönnt war und ich war mir sicher, in ihr schwelten ähnliche Missgunst. Das dem so war, stellte sie alsbald unter Beweis. Ein paar unmotivierte Versuche ihrerseits, mich bei meinem Arbeitgeber wegen ein paar Angelegenheiten aus vergangenen Zeiten – die durchaus peinlich waren – zu denunzieren, scheiterten. Als Antwort darauf schmiedete ich zunächst eine Reihe von Racheplänen, die ich aber alle verwarf. Zu viel zu tun hatte ich und ja, meine Tätigkeit, auf die ich sehr stolz war, vereinnahmte mich so sehr, dass ich das elendige Wesen, mit dem ich den Mutterleib teilte, vergaß oder vielmehr verdrängte. Da auch keine weiteren Agitationen gegen mich erfolgten, geschah es, dass ich erstmalig ein ruhiges Leben lebte ohne dass ich jeder Zeit mit einer Hinterhältigkeit rechnen musste.
So vergingen ein paar Jahre. Von Zeit zu Zeit besuchte ich meine Eltern, doch nur zu den Zeitpunkten, an denen meine Schwester nicht zugegen war. Oh waren dies himmlische Augenblicke, in denen mir gewahr wurde, wie sehr ich meinen Vater und meine Mutter eigentlich liebte. Ein Umstand, der mir emotional nie so wirklich gegenwärtig war, als mein Leben aus anhaltenden Streitereien und Gemeinheiten bestand.
So blieb es eine Weile. Doch irgendwann merkte ich gleichwohl, dass sich ein Unwohlsein in mir regte, etwas Beißendes an meinem Herzen, so als würde einem etwas zutiefst fehlen, etwas von unschätzbarem Wert. Ich rang lange mit mir, verneinte es und schimpfte mich einen Narren, doch letztendlich kam ich nicht darum herum, mir einzugestehen, dass dieses Gefühl eines Verlustes auf meine Zwillingsschwester zurückzuführen war. Ich dachte immer wieder darüber nach und lag viele Nächte schlaflos, nur um meinen Geist zu zermartern, doch ich fand keine Erklärung. Sie fehlte mir. Genauer gesagt, fehlte es mir, sie für das Hassgefühl, das sie in mir weckte, zu bestrafen, das Hassgefühl, das Nacht für Nacht, Stunde für Stunde wieder stärker wurde, nachdem ich es so lange hinter einem dünnen Vorhang aus Erfolgsstreben und der Neugier auf Neuem verbarg, durch den sich wie durch einen flotten Scherenschnitt ein Riss zog und letztendlich von einer kräftigen Böe hinfort geweht wurde. Nun war alles schlagartig wieder präsent, auch die Erinnerung an Katharinas letzten Streich und der verworfenen Vergeltung, die ich, so beschloss ich, unverzüglich nachholen wollte.
Ich ersann einen raffinierten Plan, der einen Kumpanen umfasste, der die Kunst der Verführung beherrschte, etwas Recherche, wo meine Schwester die Abende am Wochenende verbrachte sowie etwas Fotografie und ein mehr als peinliches Bild. Zwei Wochen später war der Ruf einer ehemals angesehenen Filialleiterin vollends hinüber und die Position nahm schon bald jemand anderes ein, was ich mit einem lustvollen Lachen und zu viel Brandy zelebrierte.
Ich konnte mir damals bereits denken, dass die Verunglimpfte den Verdacht auf den Hintermann dieser Charade schnell mir zuführte. Und so war es auch, wenngleich die Art und Weise, wie dies geschah, mich etwas perplex innehalten lies. Mit allem hätte ich gerechnet, nur nicht damit, dass meine Schwester mich persönlich anrief, ihre Vermutung äußerte und im selben Atemzug die Einladung zu einer Familienfeier offerierte. Mutter, Vater und wir beide – so wie früher, in unserem Elternhaus. Es war so offenkundig, dass diese Zusammenkunft eine Finte war, obwohl wir ja uns in Anwesenheit unserer Eltern nicht mehr malträtieren oder demütigen wollten. Wollte sie diese Übereinkunft brechen? So oder so, sie wusste selbstverständlich genau, dass ich mich der Einladung nicht verweigern wollte und konnte. Ich musste einfach wissen, was dahintersteckte. So nahm ich an.
An jenem Abend des Familientreffens traf ich mit etwas Verspätung ein, als die Sonne kurz davor war, hinter dem Horizont zu verschwinden. Ich war überrascht, als nicht meine Eltern die Tür öffneten, sondern Katharina, die mich spöttisch angrinste und über meine Verzögerung höhnte. Ich blieb gelassen und trat wortlos ein, nur um schließlich doch eine gallige Bemerkung zurückzugeben. Ich fragte nach unseren Eltern und Katharina zauderte bedenklich. Sie wich zunächst einer klaren Antwort aus, doch ich ließ nicht nach. Schließlich seufzte sie und offenbarte, worauf jener Abend hinauslaufen sollte.
„Vater und Mutter kommen nicht“, sprach sie. „Die sind über das Wochenende weg und ich wollte die Gelegenheit nutzen, dass wir uns hier mal aussprechen.“
Ich glaubte mich, verhört zu haben. Ich hatte ja schon damit gerechnet, dass mich auf die eine oder andere Weise eine Überraschung ereilen würde, doch entzog sich mir, was sie damit meinte, wir müssten uns aussprechen.
„Aber lass uns dies beim Essen besprechen“, fuhr sie fort. „Das Essen ist bald fertig.“
Ich protestierte: „Was soll das?“. Unwirsch forderte ich eine Erklärung ein, was meine Schwester abwiegelte mit dem Verweis darauf, dass sie mir beim Essen alle erklären würde.
Ich war empört. Zunächst drohte ich damit, sofort wieder zu verschwinden. Doch dann brannte es in mir, ihr etwas anzutun. Wohlweislich hatte ich ein sehr spezielles Mittel bei mir, das mir ein befreundeter Apotheker mitgab. Nicht tödlich, doch von herausragender psychedelischer Wirkung. Beim Gedanken daran, welch Erscheinungsbild sie in ihrem halluzinatorischen Zustand abgeben würde, verfiel ich der puren Euphorie. Ich musste mich geradezu zusammenreißen, damit unter all meinem Ärger nicht doch ein Lächeln durchbrach, das verriet, dass ich ein Vergnügen von sardonischer Lust geplant hatte. So beruhigte ich mich wieder und nahm im Esszimmer Platz.
Meine Schwester servierte den wohlriechenden Braten, dem ich jedoch nicht traute, was sie auch – wohl anhand meiner skeptischen Miene – bemerkte.
„Ich habe nichts vergiftet“, versuchte sie, mich zu beschwichtigen. „Wäre das nicht etwas zu banal und zu sehr auf dem Niveau, als wir damals noch zwölf waren?“
Vielleicht war es zu banal, aber es war eben jene Banalität, die mich an diesem Abend den Sieg davon tragen lassen sollte. Ich fummelte an meiner Jackentasche herum, um mich zu vergewissern, dass das Fläschchen mit der Droge noch bei mir war. Oh, was war ich erregt. Einen Moment nur müsste sie wieder abwesend sein und ich würde ihr mein Mittelchen in das Weinglas tröpfeln.
„Aber was wolltest du mir erzählen?“, fragte ich. „Und was meintest du damit, dass wir uns aussprechen sollten? Ich kann mir da gerade nicht so Recht einen Rein darauf machen.“
Ich lauschte neugierig, als sie ausführlich erzählte und ich musste innerlich zugeben, dass ich nicht damit gerechnet hatte, dies zu hören. Sie sprach davon, dass sie es mir nicht übelnahm, dass ich ihre Karriere ruiniert hatte. Sie versicherte mir, dass sie mir dafür vergeben wollte und sie entschuldigte sich tatsächlich für ihre Taten, gab sich selbst eine Schuld daran, dass sich das Ganze über die Jahre so aufgebauscht hatte. Sie wirkte sehr verschämt. Sollte dies alles, wie sie redete und wie sie gestikulierte, ihren Tonfall akzentuierte, nur ein Schauspiel sein, so kam ich nicht darum herum, anzuerkennen, dass sie durchaus talentiert war. Eine Überlegung, die jedoch nur mein Misstrauen und den Willen zur Umsetzung meines Planes bestärkte. Falsche Schlangen und niederträchtige Geschöpfe waren häufig gute Schauspieler und das machte sie so hassenswert – das machte das Weib mir gegenüber so abscheulich. Doch ich beherrschte mich, sodass ich nicht auf der Stelle in Rage auffuhr.
„Sprich“, wiederholte ich. „Was ist der Zweck dieser Zusammenkunft?“
Katharinas Blick war starr und bestimmt, doch lag eine gewisse Schwere in ihm – unmöglich zu sagen, was gerade in ihrem Geiste vorging.
Sie antwortete: „Ich glaube, dass es gut wäre, wenn wir das Ganze beenden. Unsere ewigen Streitereien. Wie lange soll das noch so gut gehen? Wir ruinieren uns gegenseitig. Ich will aber nicht weiter so leben. Ich merke, wie es mich immer weiter bedrückt, solch ein Leben zu führen. Es nagt an mir, zersetzt meine Seele. Und nachdem, was zuletzt geschah, dass du mich meiner Anstellung beraubt hast, da wusste ich, dass es nun Zeit ist, diesem Drama, das wir seit unserer Geburt aufführen, ein Ende zu setzen.“
Aufgeben wollte sie also, den Kampf niederlegen, da sie sich mir unterlegen sah. Aber so leicht würde ich sie nicht davonkommen lassen. Oh nein. Dieses Miststück sollte weiter leiden und dafür bestraft werden, dafür, dass sie auf dieser Welt wandelte.
„Und was schwebt dir vor?“, fragte ich mit vorgegauckeltem Interesse.
„Vielleicht essen wir erst einmal.“
Ich brumme misstrauisch, doch widerstrebend kostete ich vom Braten. Sollte ich etwas abbekommen, dann wäre meine Vergeltung nur noch unbarmherziger. Während wir speisten, blieben wir still. Nur unser Schmatzen erfüllte das weite Esszimmer begleitet vom Prasseln des einsetzenden Regenschauers, der die Fenster zum Trommeln brachte. Ich aß rasch, denn mich brannte es, zu erfahren, was mir meine Schwester mir genau mitteilen wollte, wie ihre Lösung für unser Dilemma aussah. Und obwohl ich es vermeiden wollte, ihr zu direkt ins Gesicht zu blicken, so konnte ich nicht vollkommen widerstehen, ein flüchtiges Linsen zu erhaschen. Katharina war zu geschäftig über ihren Teller gebeugt, als dass sie meinen Blick erwiderte.
Als unsere Teller beide leer waren, sagte sie: „Ich hoffe, es hat dir geschmeckt, Bruderherz.“
„Es war in der Tat sehr köstlich.“ Auch wenn es sonst keinen Grund gab, sie zu loben, so war ich niemand, der guten Genuss verunglimpfte, wenn es sich objektiv um solch einen handelte.
„Dann ist es ja Zeit.“ Sie wies mich an, ihr zu folgen, was ich tat. Als ich ihr halbvolles Weinglas passierte gab ich etwas von der Substanz hinein, die ich mit mir führte. Geschickt ging ich dabei vor, sodass mein wertes Schwesterchen keinerlei Notiz von meiner Tat nahm. Ich lachte innerlich voller Innbrunst. Wir gingen in die Küche und meine Schwester führte mich zur Tür zur Speisekammer. Selbstverständlich war ich irritiert, was das Ganze sollte und ich sah Katharina fragend an. Einmal mehr giftete ich sie an, sie solle nicht so leichtfertig unsere Zeit vergeuden.
„Hinter der Tür ist die Lösung unserer Probleme“, säuselte sie und ich konnte mich nicht des Verdachts erwehren, dass eine sublime Siegesgewissheit in ihrer Stimme lag. Sie mahnte mich, die Tür zu öffnen. Ich zauderte zunächst verständlicherweise in Erwartung auf eine böse Überraschung, doch wollte ich ihr diesen einen Spaß gönnen. Meine in Kürze folgende Rache wäre umso eindringlicher und befriedigender. Ich öffnete die Tür.
Was ich dahinter erblickte, verschlug mir den Atem und ließ meinen ganzen Körper in unerbittlicher Starre verharren. Noch nie verspürte ich so ein Grauen wie in diesem Moment, in dem ich unsere Eltern erblickte, wie sie mit aufgeschnittenen Kehlen am Boden lagen, ihre Gesichter scharlachrot getränkt. Und was am entsetzlichsten war: Ihr Körper war an der Brust aufgeschnitten. Offensichtlich war ein großes Stück Fleisch aus ihnen auf derbe Weise entnommen. Mein Leib erbebte, während mein Verstand mit meinen Augen rang und sich weigerte, anzuerkennen, was für ein entsetzlicher Anblick sich mir bot. Er nach einer Weile begriff ich, was tatsächlich geschah und was für ein grausames Mahl mir vorgesetzt wurde. Noch im Moment dieser Erkenntnis erbrach ich mich derartig, als wäre in mir ein metaphysischer Damm gebrochen, der meine Seele in einer Sturzflut zusammen mit meinem Mageninhalt aus mir herausbeförderte. Meine Beine waren Zahnstocher. Schlottern fiel ich auf die Knie.
Nach einigen Augenblicken, die mir wie Äonen erschienen, gelang es mir, das Wort zu fassen. „Was hast du getan?“, fragte ich meine Schwester bebend, während das Grauen der blanken Wut wich und so sehr ich das Geschöpf stets hasste, das mit mir zur selben Zeit auf die Welt kam, dieses Gefühl erreichte just in diesem Augenblick eine ganz neue Dimension, die ich mir zuvor nicht einmal auszudenken vermochte. Ich würde so weit gehen, zu sagen, dass sich in menschlichen Worten nicht mehr beschrieben ließ, was in mir vorging und wie sich meine Gefühl zu meiner Schwester just von einer Sekunde auf die andere intensivierten.
Katharina murmelte irgendwas. Ich verstand nicht was, dafür war ich zu aufgebracht. Es war mir auch egal. Ohnehin verließ mich jede Vernunft, jede Gelassenheit, jedes Verlangen, dieser Bestie noch eine Chance zu geben. Ich schlug ihr ins Gesicht mit aller Kraft, die ich aufbrachte, ergriff das nächstbeste Messer, das auf der Küchenzeile zu fassen war und stach auf sie ein. Wieder und wieder und immer wieder. Es war ein Rausch, in den ich mich steigerte. Ich schrie, kreischte, gurgelte unmenschlich und ich spürte geradezu, wie sich mein Gesicht zu einer monströsen Fratze verzog. Hätte mich jemand in diesem Wahnsinn erblickt, hätte er womöglich angefangen, an Dämonen zu glauben. Nach einer Zeit, wer wusste schon, wie lange, kam ich zur Ruh, schwer atmend, letztendlich kraftlos zusammenbrechend.
Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem Krankenhaus mit Handschellen angelegt, die mich an mein Bett fesselten. Es war bald klar, was geschehen war. Meine Schwester hatte ihre letzte Charade gespielt und dabei einen Bekannten genutzt, der mich bei der Polizei gemeldet hatte. Vielerlei Vorkehrungen hatte sie getroffen, um nicht nur den Mord an ihr – den ich ja auch zweifellos begangen hatte – anzuhängen, sondern auch den an unseren Eltern. Ich kam vor Gericht, wurde verurteilt und erhielt eine lebenslange Haftstrafe. Seitdem darbe ich allein vor mich hin, rasend vor Hass, doch ohne Möglichkeit, mich an der verkommenen Brut zu rächen, die diejenigen umgebracht hatte, die uns das Leben schenkten. Mir wurde klar, was Katharina meinte, als sie von der Lösung sprach, die alles beenden sollte. Sie hatte sich aus diesen Leben gestohlen und konnte ihre Ruhe finden. Ich selbst bin verdammt, mein restliches Leben in Gefangenschaft zu verbringen, entehrt als Elternmörder, mit unentwegt brodelndem Hass, der nie gestillt werden konnte. Sie hatte gewonnen.
Beitragsbild von John Hain auf Pixabay
Schön geschriebene Kurzgeschichte. Am Anfang dachte ich, es handelt sich um Ihre Kindheit, und mir vielen Parallelen zu meinem Bruder ein, und ich wurde neugierig weiterzulesen. Dass es dann aber gleich mit einem Dreifachmord endete, hatte ich nicht erwartet.
Leider kann ich Sie nicht aus dem Gefängnis befreien, da ich nicht weiß, wo Sie einsitzen. Ich würde es sonst tun. Ich werde aber weiterlesen und kommentieren, in der Hoffnung, dass Sie die Ketten die Sie festhalten, irgendwann Mal loswerden.
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Vielen Dank. Ich hoffe ebenso, dass ich irgendwann alle Ketten abstreifen kann, die mich noch halten. Das Gleiche wünsche ich jedem anderen Menschen, sich von allen Ketten zu lösen, egal, in welcher Form sie sich zeigen.
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Mir ist noch eingefallen, dass es sich gar nicht um eine Kurzgeschichte handelt, denn die hätte ein offenes Ende. Es handelt sich also „nur“ um eine kurze Geschichte.
Ja, man sollte permanent eine Kettensäge bei sich haben, sehe ich auch so.
Nach den Beiträgen von Ihnen, die ich gelesen habe, hätte ich mit einem versöhnlichen Schluss gerechnet. Dachte eher an sowas wie die Zwei-Staaten-Lösung, aber die wird auch nicht funktionieren, dass aber dann eine morbide Seite zum Vorschein kam, hat mich etwas verwundert. 🙂
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