Vorweg: Ich schätze Hamed Abdel-Samad generell sehr und erachte ihn alse eine sehr reflektierte und liberale Stimme. Seine islamkritischen Schriften mögen umstritten sein, sind aber meiner Ansicht nach immer auf den Punkt und nie diffamierend. Es ist eine Schande, dass der Mann in diesem Land, das eine freiheitliche Gesellschaft sein sollte, nicht frei leben kann und sich seit Jahren unter Polizeischutz befindet. Noch beschämender ist es, dass der Staat dem Problem nicht habhaft wird und sogar indirekt zu dessen Vergrößerung beiträgt, eben durch die Zusammenarbeit mit konservativen bis radikalen Islamverbänden (ich verweise auf meinen Beitrag „Die Apologeten-Republik). Auf diesen Aspekt geht Abdel-Samad in Teilen auch in seinem neuesten Werk ein, das sich mit der Frage beschäftigt, wie man Rassismus seine Kraft nehmen kann. Im Fokus steht jedoch mehr Identitätspolitik allgemein sowie die gruppenbezogene Personendefinierung entgegen aller individuellen Merkmale, die solche Fehlentwicklungen begünstigen.
Moralisierung und Polarisierung bestimmen die politische Debatte
Rassismus ist mittlerweile ein Thema, das tagtäglich die Medien und die Debatte allgemein dominiert. Spätestens seit dem Fall George Floyd und dem Erstarken der Black Lives Matter Bewegung erhält die Rassismusdebatte neuen Auftrieb. Allerdings handelt es sich dabei auch um ein Reizthema, bei dem sich vermehrt verhärtete Fronten gegenüberstehen. Dem einen kann keine Maßnahme gegen Rassismus weitgenug gehen und andere wiederum verleugnen das Problem. Jetzt könnte man natürlich sagen (und viele selbsternannte Anti-Rassisten machen das auch), dass die Leugner grundsätzlich auf der falschen Seite sind aus reiner Bösartigkeit oder Ignoranz. Entweder ist man für die gute Sache oder dagegen. Aber gerade diese Simplifizierung ist es, die der Autor in seinem Buch kritisch betrachtet und die auch selbst schon immer als zweifelhaft erachtet habe. Identitätspolitik ist der große Zündstoff, der den Diskurs immer mehr vergiftet und zur Spaltung beiträgt. Ist es eine Selbstverständlichkeit, den Schaden rechter Identitätspolitik zu erkennen, die etwa darin besteht, eine homogene Volksgemeinschaft zu beschwören, die abweichende Gruppen ausgrenzt, so scheint allgemein noch wenig Reflexion darüber vorzuherrschen, wie linke Identitätspolitik (bzw. deren Vermengung) ebenso eine gesellschaftliche Spaltung vorantreiben kann. Anti-Rassisten werden immer mehr zu Rassisten in ihren guten Absichten und erwidern spalterische Parolen mit selbigen. Gerade dieser Missstand in der Debatte, der sich im Versagen eines jeden Dialogs unter Individuen zeigt, wird als das Kernproblem herausgestellt.

Berichtung über eigene Erfahrungen ohne Betroffenheitsromantik
Hamed Abdel-Samad schildert in seinem Buch eigene Erlebnisse von erfahrenen, aber auch eigens praktizierte Vorurteile – und zwar in seinem Geburtsland Ägypten als auch in Deutschland. Es gibt einige Anekdoten zu Ereignissen, die ihn geprägt haben auf seinem Weg, seine Identität abseits gruppenbezogener Identifizierungen zu finden. Der Autor betont dabei klar, dass es nicht um Betroffenheitskitsch geht und zu keiner Stelle wäre so einer in dem Text aufzufinden. Im Gegenteil: Er plädiert für das Hinterfragen eigener Ressentiments im Abgleich mit Ressentiments, die einem selbst widerfahren. Dabei ist es für ihn auch wichtig, in der Debatte nicht nur differenzierende Eigenschaften zu finden, sondern ebenso Gemeinsamkeiten, um Empathie zu entwickeln. Es geht um das Kritisieren, aber auch um die Entwicklung von Selbstkritik, ohne diese in Selbstgeißelung abgleiten zu lassen, wie es zu weilen passiert (etwa, wenn weiße Menschen sich nur noch in Reue üben dürfen, aber sonst nicht mehr, weil sie ja angeblich nichts zu Rassismus sagen können als Nichtbetroffene). Die Gründe von Rassismus und Vorurteilen sieht Abdel-Samad dabei in archaischen Trieben und Ängsten und genau dort sieht er auch die Ansätze Lösung – eben diese Ängste abzubauen und ein gewisses Verständnis zu entwickeln, um Ansatzpunkte für Gegenargumente zu entwerfen, solange der ideologische Sumpf noch nicht zu tief ist.
Ein künstlich aufgebauter Antagonismus
An einem Beispiel möchte ich kurz darlegen, wo die Ausführungen des Autors zutragen kommen könnten (das Beispiel ist eigens gewählt und nicht im Buch genannt): Kürzlich haben die Grünen ihr Parteiprogramm veröffentlicht und dabei eine interne Debatte über den Begriff „Deutschland“ und seine mögliche negative Assoziation ausgelöst. Einerseits greifen die Grünen hier Ressentiments auf, die Migranten womöglich hegen könnten gegenüber Deutschen und stellen hier eben dieses Gruppendenken auf. Dabei wird schon gar nicht mehr individualisiert. Es wird pauschal unterstellt, dass Migranten sich dadurch erst einmal angegriffen fühlen, wodurch eben Menschen mit Migrationshintergrund kollektiv eine Eigenschaft, ein Fremdbild zugesprochen wird. Im gleichen Atemzug wird suggeriert, dass Deutschland etwas Negatives ist.
Anhand dieses Beispiels kann man prima veranschaulichen, wie Ressentiments auf beiden Seiten entstehen kann. Nehmen wir mal einen Deutschen und einen Migranten her. Ein Migrant in einem Land, das sich selbst als etwas Negatives begreift, wie kann man es ihm verübeln, wenn er beeinflusst durch sein Herkunftsland zwischen den Kulturen bzw. den Identitäten schwankt, wenn er quasi damit rechnen muss, dass etwas, das mit Deutschland zu tun hat, gegen ihn ist, und er dann eben Zuflucht in einer Gruppenidentität gemäß seiner Heimat sucht. Und wie kann man es einem autochthonen Deutschen dann verübeln, dass, wenn ihm eingeredet wird, Deutschland wäre etwas Schlechtes und deswegen bräuchte es mehr Migration zum Selbstzweck von Menschen mit einem ganz anderen Identitätsgefühl, um die eigene Identität zu unterlaufen. In beiden Fällen entwickelt sich eine gruppenbezogene Identität und in beiden Fällen geschieht dies aus Ängsten und Sorgen, die in einem Gespräch mit Individuen womöglich aus der Welt geschafft werden können. Doch das Verharren in diesen Gruppenidentitäten hemmt den Dialog auf beiden Seiten. Dann braucht es nur noch ein paar Giftspritzen (etwa, wenn Ferda Ataman unterstellt, Menschen mit Migrationshintergrund wären Patienten zweiter Klasse), um einen künstlichen Antagonismus zwischen zwei Gruppen aufzubauen. Zusätzlich besteht die Gefahr, dass weitere Antagonismen innerhalb einer Gruppe auftreten. Stichwort: Haustürken, das von Menschen mit türkischem Hintergrund verwendet wird, die ihr Türkischsein als Identität pflegen und die Menschen mit türkischem Hintergrund damit beleidigen, weil diese sich vom „Türkischsein“ abgewendet und der neuen Identität zugewendet haben. Solche Kollektivgedanken sind kein Privileg von Weißen. Sie gibt es überall und sie alle sind schädlich, da sie den Menschen in seiner Persönlichkeit einengen möchten.

Natürlich, so muss man sagen, kann ein Dialog nicht immer klappen, vor allem wenn die identitätspolitische Selbstwahrnehmung schon so weit fortgeschritten ist, dass sie parallel zu einem Radikalisierungsprozess läuft. Und gerade mit Gruppen ist ein Gespräch meist schwer möglich, wenn die Gesetze der Massenpsychologie (nach Gustave Le Bon) greifen. Abdel-Samad sieht – und da stimme ich ihm zu – das Streben nach einem Dasein als echtes Individuum als Schlüssel, um dem Rassismus seine Macht zu nehmen und das besteht eben aus respektvollen Alltagsdiskussionen. Dabei ist es aber notwendig, sich eben auch zu überwinden, mit Personen zu reden, die eine Meinung teilen, die man ablehnt. Aber es geht darum, Hintergründe des Individuums zu erfahren. Warum agiert er so? Warum hegt er die Ressentiments? Hinter jedem Menschen steckt eine Geschichte. Es ist nicht zielführend ein Ressentiment wie „die Neger“ mit anderen Ressentiments wie „die Kartoffel“ oder „der alte weiße Mann“ entgegnen, wenn sich Gespräche entwickeln sollen, die über den Versuch des Moralisierens hinausgehen.
Individualismus und Empathie als Schlüssel
„Schlacht der Identitäten“ ist eine Abrechnung mit dem Kollektivdenken und plädiert für das Individuum und für eine empathische Gesellschaft, in der sich Individuen mit anderen Individuen auseinandersetzen. Der Autor spricht gegen die Entwertung des Andersartigen durch völkischem Chauvinismus ebenso aus wie gegen paternalistische Bevormundungsfantasien von linken Gruppen, die in gute und böse Migranten einteilen, je nachdem, ob diese ein gewünschtes Verhalten an den Tag legen. Abdel-Samad sagt dabei aber ebenso klar, dass Kritik erlaubt sein muss. Kritik an kulturelle Riten, an religiösen Dogmen, an politischen Systemen. Und warum auch nicht? Nur, wenn man sich eben nur als Teil einer Gruppe begreift, kann man sich selbst durch sachliche Kritik beleidigt fühlen, da man es als Angriff auf die Allgemeinheit wertet. Aber, wer sich als Individuum sieht, bei denen die kulturellen bzw. soziokulturellen Komponenten nur ein Teil seiner selbst sind, der wird auch das Selbstbewusstsein haben, sich nicht durch kritische Aussagen in seiner Würde als Gruppenmitglied verletzt zu sehen, eben weil diese Gruppenzugehörigkeit sekundär ist. Natürlich bleibt Abel-Samad seinen früheren Ausführungen zum Islam und Islamismus treu und spricht sich für Respekt und Toleranz aus, aber im richtigen Rahmen und nicht als Vorwand, um Intoleranz wachsen zu lassen.
Noch zwei Beispiele am Schluss
Abschließend möchte ich unabhängig vom Buch noch zwei Beispiele nennen, in denen sich zeigt, wie „gute“ Identitätspolitik Gräben nur noch verschärfen kann.
Nehmen wir Amanda Gormans Gedicht „the hill we climb“ her. Diesbezüglich gab es ja einen Aufschrei deswegen, dass eine niederländische Übersetzerin weiß ist und sie deswegen das Gedicht nicht adäquat übersetzen kann. Wenn man aber davon ausgeht, dass man Empathie für Opfer von Rassismus fordert, wie kann man gleichzeitig davon ableiten, dass es keine weiße Frau geben kann, die so viel Empathie aufbringen kann, um die Worte, die Amanda Gorman mittteilen möchte, zu erfassen. Weiße sollen das Gedicht lesen und sich ergriffen fühlen, aber sie dürfen selbst keine eigenen Gedanken dazu machen? Und wie sähe es mit einem afrikanischen Übersetzer aus, der schwarz ist, aber eben in Afrika aufgewachsen ist und dort lebt? Kann er mehr über die Empfindungen von Afro-Amerikanern sagen, weil er schwarz ist, obwohl er eben nicht unbedingt viel über das Leben in den Staaten weiß? Man fordert hier Reue ein, aber lässt gleichzeitig keine echte Reflexion zu.
Ähnlich sieht es mit dem Konzept der kulturellen Aneignung aus. Einerseits soll die Welt bunt und vielfältig sein, gleichzeitig wird es als frevlerisch erachtet, wenn Weiße sich mit Dingen aus anderen Kulturen schmücken. Sollte Blues nur für Schwarze sein? Haikus dürfen nur von Japanern geschrieben werden? Kimonos und Dreadlocks sind auch tabu? Wie soll auf diese Weise ein interkultureller Dialog zustande kommen. Ich verweise auf diesen Artikel, aus dem ich zitiere:
Sich einfach nur eine Portion Sushi schmecken zu lassen, ist natürlich keine kulturelle Aneignung. Kritisch wird es aber beispielsweise dann, wenn etwa Weiße von Weißen lernen, wie man „indigenes Essen“ zubereitet. Mit der Aneignung kultureller Errungenschaften können Grenzen überschritten werden. Und das schneller als man denkt.
Warum wird es kritisch? Ist es so verkehrt, wenn ein Weißer sich mit der japanischen Kultur beschäftigt, etwas mit in die Heimat nimmt und es Menschen (nicht nur weißen) zeigt? Auch wenn er sich sehr tief damit auseinandergesetzt hat? Warum darf er nicht Erfahrungen machen und diese weitergeben? Und warum dürfen sich Afrikaner, Asiaten usw. dann im Gegenzug etwa auf den Liberalismus berufen, der in Europa von Weißen begründet wurde? Letztendlich wird durch das Konzept der kulturellen Aneignung nur eine Variante des Ethnopluralismus produziert. Weiße machen weiße Dinge, Japaner japanische und Schwarze Sachen für Schwarze. Alles säuberlich getrennt. Was kritisiert wird, wenn es von der IB kommt, wird plötzlich zum erstrebenswerten Konzept erklärt. Muss man das verstehen? Ich lehne dieses Prinzip ab, da es die gesamte Welt und ihren Erfahrungsschatz, den sie bietet, reduziert.
Fazit
Damit möchte ich es aber nun auch belassen. Empfehlen kann ich das neueste Werk des Autoren definitiv, da er das Thema Rassismus differenziert und ohne Kitsch angeht. Und wer von Hamed Abdel-Samad noch nichts kennt: Ruhig auch die früheren Bücher lesen. Mein Favorit bleibt nach wie vor „Mohammed – Eine Abrechnung“. Was sagt Ihr eigentlich zu dem Thema allgemein? Lasst mir gerne eure Meinung da.