Buchvorstellung: Der Traum der roten Kammer

Chinesische Literatur ist jetzt in unseren Breiten nicht gerade bekannt und beliebt. Und auch ich muss sagen, habe erst recht spät dazu Zugang gefunden. Erste Berührungspunkte hatte ich während meines Studiums, wo ich Mandarin als Wahlfach belegte. Jetzt sind meine Kenntnisse leider bei Weitem nicht so gut, als dass ich ein ganzes Buch im Original lesen könnte. Aber auch in einer Übersetzung lassen sich aus dem fernen Osten echte Schätze entdecken. Ein Werk, das ich auf jeden Fall ans Herz legen kann, ist „Der Traum der roten Kammer“ von Cao Xueqin, entstanden im 18. Jahrhundert, was zu den vier klassischen Romanen Chinas gehört („Die Reise nach Westen“ gehört etwa auch dazu) und insgesamt auch zu den berühmtesten Romanen des Landes.

Worum geht es in dem Roman?

Am ehesten kann man Xueqins einziges überliefertes Werk tatsächlich als eine Art Buddenbrooks (der Vergleich fällt häufig) in der chinesischen Variante bezeichnen, auch wenn das natürlich etwas einfach greift. Aber auch hier geht es um eine mächtige und einflussreiche Familie und deren Niedergang. Die Handlung spielt aber 200 Jahre früher in der Ming Zeit und in einem völlig anderen kulturellen Kontext.

Und dieser kulturelle Unterschied mag zuweilen etwas befremdlich sein. Zugegeben kann der Einstieg in die Handlung erst mal etwas holprig sein, da es zunächst eine Art Vorgeschichte gibt mit Protagonisten, die dann eine lange Zeit nicht mehr auftauchen und erst spät wieder relevant werden und die die Rahmenhandlung bilden, die den Werdegang des Protagonisten abschließen (mehr schreibe ich nicht, wegen Spoilern). Auch später werden immer wieder Parallelhandlungen verfolgt, wobei viele Nebencharaktere eine mehr oder weniger große Bedeutung erhalten. Insgesamt tauchen über 300 Charaktere auf, was in Verbindung mit den chinesischen Namen vielleicht etwas überfordernd sein kann. Ich müsste lügen, wenn ich sage, dass ich mir alle Namen durch die Bank durch merken konnte. Aber man wird mit einem tiefblickenden Sittengemälde belohnt, wenn man sich darauf einlässt.

Im Fokus des Familienepos steht der weltentrückte und sorglose Aristokratenspross Pao Yü aus der Jia Familie, der sich lieber den schönen Künsten wie der Poesie und auch den Damen hingibt, die mit im Anwesen leben, als die Laufbahn einzuschlagen, die sein strenger Vater ihm auferlegt. Vor allem die Beziehung zu seiner Cousine Blaujuwel ist ihm wichtig, doch die immer stärker werdenden romantischen Gefühle kollidieren zunehmend mit den auferlegten Pflichten als Sohn, den gesellschaftlichen Schranken und der Familie selbst, die mit fortschreitender Handlung immer mehr darum kämpft, Ansehen und Besitz zu bewahren. Sie leistet Widerstand gegen Pao Yüs und Blaujuwels gegenseitiger Zuneigung. Aufgrund dessen ist der Adelssohn hin und her gerissen zwischen dem Halten an der irdischen Welt und Entsagen dieser. Ein weiteres wichtiges Element ist die Dichtkunst. Pao Yü sowie seine Cousinen treffen sich regelmäßig, um sich ihre Schriften auszutauschen und gegenseitig anzuspornen. Doch mit der Zeit wird es immer einsamer um Pao Yü. Die gesellschaftlichen Konventionen lassen ihm wenig Raum, das Leben, das er sich vorstellt, zu führen und vor allem nicht, mit den Menschen, mit denen er dies möchte.

Was sollte ich zur Handlung noch groß sagen? „Der Traum der roten Kammer“ ist ein Mammut-Epos, das in der mir vorliegenden Übersetzung (auf den Punkt komme ich später noch) bereits 800 Seiten hat. Daher verzichte ich auf eine Inhaltszusammenfassung. Auch wenn es sehr oft um Pao Yüs Gefühlswelt geht, so wird viel Wert darauf gelegt, politische, religiöse und gesellschaftliche Themen zu behandeln, die über die zahlreichen Parallelhandlungen angesprochen werden. Auch werden am Hof der fürstlichen Familie etliche Intrigen gesponnen, die unaufhaltsam den Niedergang der Familie Jia beschleunigen. Die Mitglieder der Kernfamilie erhalten dabei sehr viel Raum, um dem Leser ihre Gefühle, Sorgen und Motivationen darzulegen und auch in der gekürzten Übersetzung, die ich hier vorstelle, waren die Charaktere nachvollziehbar.

Ein authentisches Sittenbild

Der Autor Cao Xueqin entstammte selbst einer Adelsfamilie, die in kaiserliche Ungnade fiel. Es lässt sich annehmen, dass in viele Gegebenheiten, die im Roman beschrieben werden, persönliche Erlebnisse mit hineinflossen. Die Abbildung der gesellschaftlichen Umstände selbst wirken authentisch. Xueqin schildert das alltägliche Leben im Anwesen der Familie Jia ebenso ausführlich wie das außerhalb der Hausmauern auf den Straßen und die starren bürokratischen Strukturen im damaligen Beamtentum. Und auch sonst werden viele Details angesprochen. Gartengestaltung, Mode, Frisuren, Teezeremonien, Beerdigungen, Theaterveranstaltungen und vieles mehr – es kommt praktisch alles zur Sprache, was zu der damaligen Zeit Gang und Gäbe war bezüglich Tradition und Moralkodex und lässt den Leser dadurch richtig in diese Zeit eintauchen.

Das Epos spielt darüber hinaus in einer Zeit, in der das Leben in China von den drei religiösen Strömungen Konfuzianismus, Buddhismus und Daoismus geprägt wurde. Alle drei Philosophien sind immer wieder erkennbar. Auch Pao Yü begegnet diesen, gerade dann, wenn ein neuer Schicksalsschlag ihn wieder daran zweifeln lässt, ob das weltliche Dasein ihm noch etwas bietet und ihn fragen lässt, ob er dem Irdischen entsagen sollte. Überraschenderweise treten in diesem Zusammenhang immer wieder leicht übernatürliche Elemente auf – teilweise nicht eindeutig und als Traumerlebnis, aber dann wiederum offenkundig fantastisch, aber durch den dezenten Einsatz dann umso stärker in der metaphorischen Wirkung. Womöglich kann man daraus noch mehr Essenz ziehen, wenn man sich selbst intensiv mit den Religionen Chinas beschäftigt hat. Ein Experte bin ich hier jetzt auch nicht. Was aber bleibt: Der Leser erhält einen faszinierenden Einblick in das Leben in China der Qing Dynastie. Der Autor schreibt so detailreich und ausgiebig, dass man, auch ohne ein China-Kenner zu sein, gute Eindrücke über das damalige gesellschaftliche Leben gewinnt und vielleicht man sogar das Interesse erhält, mehr darüber zu erfahren. Zurecht gilt „Der Traum der roten Kammer“ als das gelungenste Sittenbild der Qing Dynastie.

Qing? Ming? Habe ich da etwas durcheinandergebracht?

Jetzt habe ich anfangs geschrieben, dass die Handlung in der Ming Zeit spielt und später dann, dass es um die Qing Dynastie geht. Das habe ich nicht verwechselt. Tatsächlich lebte Xueqin zur Zeit der Qing und genau eine Darstellung dieser Zeit mit ihren sozialen Verhältnissen unter dem Kaiser Qianlong bildet „Der Traum der roten Kammer“. Allerdings galten damals sehr strenge Zensurgesetze. Der Kaiser hatte seine sogenannte „Literarische Inquisition“ durchgeführt, die darauf abzielte, Literatur zu bekämpfen, die sich gegen die Autorität der Qing Dynastie richtete. Da „Der Traum der roten Kammer“ in mehreren Punkten Sozialkritik übt, ist es nachvollziehbar, dass der Roman in diesem Umfeld auch ins Visier der Sittenwächter geriet. Nicht nur, dass die männlichen Charaktere zum großen Teil alles andere als Vorbilder und zuweilen charakterlich äußerst verkommen sind (der die Frauen wertschätzende Pao Yü ist eine der wenigen Ausnahmen), was durchaus als Kritik an den patriarchalischen Strukturen zu werten ist, kommt auch die feudale Oberschicht jener Zeit alles andere als gut weg. Korruption, Vetternwirtschaft und Ausbeutung sind die Mittel, mit denen die Familie Jia, die exemplarisch für diese Schicht steht, versucht, ihren Status zu halten – von Beamten und Autoritäten immer wieder gestützt. Es versteht sich, dass diese Schilderung unter der Regentschaft Qianlongs nicht so gut ankam.

Darum lies der Autor die Handlung eben zur Ming Zeit stattfinden, um mit dem sozialkritischen Charakter nicht gegen diese Gebote zu verstoßen. Nichts destotrotz geht man davon aus, dass viele Teile, unter anderem das Ende, schon von Anfang an durch den Autor und später auch durch Abschriften umgeändert wurden und einige kritische Aspekte verloren gingen. Teilweise lag das Werk auch nur unvollständig vor und konnte im Laufe der Zeit wieder restauriert werden.

Dies führte auch dazu, dass es zu mehreren Übersetzungen kam. So waren lange Zeit nur Teilübersetzungen erhältlich. Mittlerweile gibt es auch vollständige Übersetzungen in Deutsch. Neuaufgelegt und daher verbreiteter ist die deutsche Teilübersetzung von Franz Kuhn, die ich habe und um die es hier geht. Ich habe auf jeden Fall vor, das vollständige Werk noch zu lesen. An dieser Stelle sei aber gesagt, dass die Preise dafür recht hoch sind. Es war bei mir auch eher Unwissenheit, dass ich zunächst an die Teilübersetzung gelangt bin – und ein Spontankauf, als ich das Buch mal entdeckt habe im Laden. Da doch eine Menge Kapitel dazu kommen in der vollständigen Übersetzung, kann ich mir schon vorstellen, dass es noch einen erheblichen Mehrwert gibt, was Charaktertiefe und Handlungsausbau betrifft. Aber ohne das ganze Werk zu kennen hatte ich jetzt nie das Gefühl, dass mir jetzt völlig etwas abhandenkam. Wer also nicht 80 Euro oder mehr ausgeben möchte, der kann sich zunächst ohne Reue an die Franz Kuhn Übersetzung wagen.

Warum mir das Buch so gefällt

Nicht nur, dass mich die authentische Schilderung der gesellschaftlichen Zustände des damaligen Chinas sehr beeindruckt haben und es der Autor auf vortreffliche Weise vermag, eine akkurates Bild dieser zu zeichnen, gefällt mir auch die Sprache sehr. In der mir vorliegenden Übersetzung wird sich eines sehr poetischen Sprachstils bedient (vielleicht schaffe ich es ja irgendwann, dass ich auch ein bisschen in der Originalsprache lesen kann, um einen Vergleich aufzustellen), der viel mit Metaphern und wohlig-lyrischen Umschreibungen arbeitet, was gerade dann passt, wenn die jungen Protagonisten rund um Pao Yü gedanklich den verkrusteten Gesellschaftsstrukturen entweichen und in ihre Welt der Dichtung abdriften. Trotz allem liest sich das Werk aber auch nicht allzu schwer oder wird gar sperrig. Zum Großteil liest es sich sogar recht angenehm. Aber wie gesagt: Es tauchen eine schiere Anzahl an Charakteren auf, worauf man sich schon einlassen muss.

Ich kann „Der Traum der roten Kammer“ also nur empfehlen und das nicht nur für Leser, die sich für China interessieren. Zurecht hat dieses Epos Klassikerstatus. Kennt das Buch noch jemand? Hat vielleicht schon jemand die vollständige Übersetzung gelesen? Lasst mir dann gerne eure Meinung da.

2 Kommentare zu „Buchvorstellung: Der Traum der roten Kammer

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