Die Freiheit in letzter Konsequenz

Freiheit zur Selbstaufgabe sagen die einen. Der eigene Körper stünde jedem Individuum zur freien Verfügung, behaupteten die anderen. Weitere sprachen von Selbstversklavung. Andere sahen die Vervollkommnung der libertären Idee. Der Antrag war umstritten. Das Fernsehen bestand nur noch aus Talkshows, die sich ihm widmeten, Radios waren voll von Begeisterung und Empörung und praktisch an jedem Eck taten Straßenprediger ihre Meinung vor angespannter Zuhörerschaft lautstark kund.
Viele Menschen waren verunsichert und wussten nicht, was sie davon halten sollten. So fassbar waren Vor- und Nachteile gleichermaßen, so widersprüchlich die dargelegten Konsequenzen, wie sie als Szenarien direkt aus der John Locke Zentrale verkündet wurden. Experten diskutierten mit anderen Experten und die wiederum mit selbsternannten Experten. Psychologen, Ökonomen, Soziologen und auch der eine oder andere Künstler brachten ihre Meinung werbewirksam in die Öffentlichkeit.
Die Contra-Argumente unterschieden sich von Sektor zu Sektor. Während im deutschsprachigen Sektor 12 etwa auf die absolute körperliche Unversehrtheit verwiesen wurde, die von den staatlichen Organen zu schützen war, wurde in Regionen, in denen sich ehemalige Kolonialstaaten (das waren sie in einer Ära, als es noch einzelne Staaten gab) befanden, auf historischer Ebene diskutiert. Es wurde vor einem Kolonialismus durch Privatpersonen gewarnt, was, so hieß es, alle Erfolge, die die Abschaffung der Nationen erzielt hatten, negieren würde.
Ich sah eine der Debattensendungen an und lauschte dem, was die Teilnehmer hervorbrachten. Eine mir unbekannte Frau, Volkswirtin, sprach: „Es ist natürlich einfach zu sagen, dass jeder mit seinem Körper machen darf, was er will. Doch müssen wir auch bedenken, dass wir als einzige staatliche Aufgabe die Pflicht aufgestellt haben, das Leben, die Gesundheit und das Eigentum unserer Bürger zu schützen. Und der Körper ist das Eigentum eines jeden Menschen.“
Ein Mann, Rechtsphilosoph, den ich schon in anderen Sendungen erlebt habe, entgegnete: „Aber gerade, weil wir das Eigentum schützen, müssen wir die Verwendung des eigenen Körpers gewähren. Kein anderer Mensch, darf einem Menschen gegen seinen Willen etwas antun. Aber was jemand freiwillig mit seinem Körper macht oder machen lassen will, darf den Staat nicht interessieren. Der Antrag ist die Freiheit in letzter Konsequenz, reiner Libertarismus in einer Welt, in der allein auf die Eigenverantwortung der Bürger gesetzt wird. Und wenn dann jemand unvernünftig handelt, dann muss man dies so akzeptieren.“
„Sie tun gerade so, als hätte jeder eine Wahl. Aber was, wenn jemand nicht handlungsfähig ist, wenn jemand unter Drogen gesetzt wird und in diesem Einfluss zu einer Handlung verleitet wird? Oder wenn jemand in eine Notlage gerät, die andere ausnutzen. Geht der Antrag durch, kann im Prinzip jeder einfach auf der Straße jemandem Geld dafür anbieten, ein Organ zu verkaufen.“
„Diese Argumente lass ich nicht gelten. Jemanden in einem handlungsunfähigen Zustand für eigene Zwecke zu missbrauchen, verstößt definitiv gegen die Unversehrtheit, die vor anderen Menschen geschützt werden muss, und kann vor Gericht gebracht werden. Dies ist dann Sache der Judikative, aber nicht die des Gesetzgebers, von einem vernünftigen Gesetz abzusehen, weil es missbraucht werden kann.“
„Aber ist es denn vernünftig“, warf ein weiterer Teilnehmer, ein Professor der Hochschule Berlin, ein, „wenn wir ein Gesetz haben, das möglicherweise zur Selbstverstümmelung anreizt, um die Versicherungen zu betrügen?“
„Das könne man gelten lassen“, erwiderte der Rechtsphilosoph, „wenn wir denn noch in einem veralteten Sozialstaat leben würden. Doch kann jede Versicherung als Privatunternehmen selbst entscheiden, wen sie aufnimmt und für was sie ihn versichert. Natürlichen müssen Betrügereien als Verstoß gegen das Eigentumsrecht geahndet werden, aber wenn eine Versicherung nicht zu nachlässig ist, wird sie die schwarzen Schafe sofort erkennen und erst gar nicht aufnehmen.“
„Ich habe noch eine Frage an Sie“, sagte die Volkswirtin zu dem Rechtsphilosophen. „Sie haben mir darauf noch nicht geantwortet. Was ist mit Menschen, die in Notlagen geraten und die allzu leicht ausgenutzt werden können? Menschen sind aufgrund ihrer Armut dazu gezwungen, ihren Körper zu verkaufen oder sich freiwillig in eine Sklaverei zu begeben.“
Der Mann antwortete: „Dies kann durchaus sein. Aber bedenken wir einfach mal, wie gering der Anteil derjenigen ist, die dazu wirklich genötigt ist. Ein erheblicher Anteil der Menschheit lebt momentan in Wohlstand und zwar der Teil, der bereit ist, etwas zu leisten und zwar in der Art und Weise, dass er mit seiner Leistung etwas für sich Gutes herausholen kann. Natürlich wird es immer welche geben, die sich in einer Notlage wähnen und zu verzweifelten Maßnahmen greifen. Das müssen sie aber nicht. Die weltweite Arbeitslosigkeit ist auf einem Tiefstand und das, weil es kaum mehr staatliche Hürden gibt für Betriebe, die davor nicht möglich waren. Bedenken wir einfach mal, dass auch jeder die Bildung wählen kann in einem breiten, privaten Angebot. Es stehen so viele Möglichkeiten für den Einzelnen offen. Und die meisten Bildungsstätten bieten im Konkurrenzkampf mit anderen Stätten Finanzierungsmöglichkeiten an, sodass es auch für Menschen mit weniger Geld entsprechende Möglichkeiten gibt, sich zu bilden und einen guten Job zu ergreifen. Sicherlich werden einige aus dem Raster fallen. Aber dieser kleine Teil, der es aus eigener Kraft nicht schafft, sollte die freiheitliche Idee doch nicht in Frage stellen.“
„Sie nehmen es also hin, dass Menschen sich in eine Sklaverei begeben? War es nicht das, wogegen Vorreiter des Liberalismus gesprochen haben? Dass es kein gottgegebenes Herrscherrecht über andere gibt?“
„Gibt es auch nicht. Beherrscht wird, wer sich freiwillig in die Herrschaft begibt. Und wenn der Herrscher diese Dienste dann beansprucht, ist dies nur gerecht. Und wer sich freiwillig beherrschen lassen will, den darf man davon nicht abhalten. Wer sind wir, wenn wir meinen, wir können andere von schlechten Entscheidungen abhalten?“
„Und sehen Sie nicht, dass vor allem die afrikanischen Staaten nach wie vor dahin darben?“
„Afrikanische Staaten?“ Der Rechtsphilosoph lachte auf. „Sie leben in der Vergangenheit.“
„Sie wissen, was ich meine. Die Region, die einstmals als der Kontinent Afrika bekannt war. Finden Sie nicht, dass der Lebensstandard noch immer sehr ungleich verteilt ist?“
„Im Vergleich zu unserem Sektor mag das sein, doch ignorieren Sie auch nicht die Fortschritte, die sich ergeben haben. Dass die ehemaligen Länder in dieser Region so am Boden waren, lag auch an ihren korrupten Regierungen, die Ressourcen an die Firmen anderer Länder, generell an andere Staaten verkauft haben. Dies ist nun nicht mehr möglich. Und jeder hat die Option, sich überall niederzulassen und bei jeder Firma anzufangen. Die Ausbildung hat in diesen Regionen durch die totale Privatisierung des Bildungssektors an Qualität durchaus zugenommen und bietet den Menschen mehr Möglichkeiten. Sicherlich wird es nie vollkommene Gerechtigkeit in der Vermögensverteilung geben. Aber da frage ich mich: Wäre das auch gerecht? Denn es gibt nun einmal kein natürliches Recht auf ein komplett glückliches Leben. Und manche haben halt Glück zusätzlich zu ihrem Fleiß und manche haben Pech. Was wollen Sie daran ändern? Zurück zum Sozialstaat, der in seiner Endphase so überbordend war, dass die Leistungsträger der Gesellschaften als Sündenböcke für alles dargestellt wurden und alles schultern mussten, was an finanziellem Aufwand anfiel? Ich glaube, das haben wir hinter uns. Das letzte, was wir brauchen können, ist, dass daraus dann wieder sozialistischer Unfug wächst.“
Ein vierter Gast erhob das Wort. Ich kannte ihn. Seine Thesen waren berüchtigt. „Ich habe es schon immer wieder gesagt und wiederhole mich. Ein weltweiter Libertarismus macht keinen Sinn. Vielleicht brauchen manche Regionen den Sozialstaat. Und andere können aufgrund ihres gehobenen Standards und ihrer Bildung Libertarismus besser umsetzen. Die Funktionsfähigkeit libertärer Strukturen steigt doch mit hoher Bildung der Bevölkerung und mit sinkender Bevölkerungszahl. Intellekt muss im Rahmen eines kleinen Bereiches gebündelt werden, da sonst alles zu unübersichtlich wird. Wir sollten also in jedem Sektor einzeln betrachten, in wie weit wir die Gesetzgebung liberalisieren können und wo es etwas mehr Staat braucht. Vorausgehend muss aber eine gewisse Bevölkerungsumstrukturierung stattfinden, um Überbevölkerungen in manchen Sektoren zu vermeiden. Die Bevölkerungsstruktur in einem Sektor muss zudem relativ homogen sein. Der Rest hängt dann von den natürlichen Gegebenheiten einer Region ab, wie die Gesetzgebung angepasst wird und wie stark die libertäre Ausprägung ist. Natürlich müssen Migrationsbewegungen zur Vermeidung schädlicher Heterogenität unterbunden werden. Und Bildung. Wir müssen hochgebildete, kleine Regionen erschaffen. Vollkommene Gleichheit wird dann immer noch nicht möglich sein. Aber dann muss man eben sehen, wie weit die Liberalisierung in einer Region stattfinden kann. Regionale Differenzierung. Dann müssten wir über so einen Antrag erst gar nicht reden.“
„Sie wollen also zurück zu einer in Staaten geteilten Welt?“. Das Publikum lachte. Ich schaltete den Fernseher aus.
Wären solche Verordnungen nicht zu sehr antifreiheitlich? Wäre es überhaupt möglich, jeden Menschen zu bilden? Bräuchte es nicht sogar ein paar Dumme, die sich im Dreck wälzen? Seit Wochen hörte ich das gleiche Geschwätz. Aber ich habe mich entschieden. Ich würde für den Antrag stimmen. Ginge er durch, dann wäre immerhin die Abmachung mit meinem Nachbarn legal: Ab und an ließ er sich von mir Schmerzen zufügen und bekam dafür Geld, viel Geld. Dieses Geld spendete er dann an das örtliche Tierheim, das seit Langem ums Überleben kämpfte. Ein sadistisches Vergnügen meinerseits, aber für einen guten Zweck.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

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