In jener klaren Winternacht präsentierte sich der Vollmond in seiner ganzen Pracht. Ehrwürdig residierte er an der Spitze des Firmaments und bedeckte die Welt unter ihm mit seinem mondänen Licht. Eine seltsame Ruhe erfüllte die Nacht. Kein Heulen des Windes, kein Knacken der Äste, kein Rufen der wilden Waldbewohner. Es war, als hätte eine urgewaltige Macht jedes Leben ausgelöscht. Sich tatsächlich der Tat rühmen, ein Leben beendet zu haben konnte sich hingegen die hagere Gestalt, die am Ufer des kleinen Sees kauerte, der von den massiven Kiefern und Tannen des Waldes umsäumt war.
Die klare Wasseroberfläche funkelte im fahlen Mondschein, als hätte sich glänzende Seide auf ihr ausgebreitet. In ihr reflektierte sich Melvins von Blut und Dreck besudeltes Gesicht – im Schock erstarrt, die Augen wie ein panisches Tier aufgerissen. Seit Minuten saß er mit angespanntem Körper dar, fassungslos über das, was sich eben ereignet hatte.
Ich habe es getan. Ich habe es tatsächlich getan.
Seine Gedanken überstürzten sich. Es war, als jagte ein Orkan durch seinen Kopf, schlug alles kurz und klein und hinterließ sein Denkvermögen als eine Ruine.
Was habe ich getan? Was ist gerade geschehen? Oh, ich habe ihn getötet. Getötet. Ja, er ist tot. Aber das war doch keine Absicht. Es war Notwehr. Ja, genau Notwehr war es. Ah, was für eine schöne Winternacht. Eine herrliche Nacht. Vielleicht eine Wanderung noch. Etwas Luft schnappen und den Traum genießen. Es muss ein Traum sein. Morgen ist alles wie zuvor. Halt Melvin! Reiß dich zusammen. Stell dich der Realität. Du hast ihn getötet. Deinen eigenen Bruder.
Melvin zitterte, doch nicht vor Kälte. Auch wenn es kalt genug war, um den Boden gefrieren zu lassen, war es ihm in der Aufregung so warm, als wäre er von den lauen Lüften im späten Mai umgeben. Allmählich gewann er seine Geistesgegenwärtigkeit zurück, ohne jedoch zur Ruhe zu kommen. Er tauchte seine Hände in den eisigen See, klatsche sich das Wasser ins Gesicht und wusch sich das frische Blut ab. Dann säuberte er seine Hände und betrachtete seine Kleidung. Es war zu dunkel, um zu erkennen, wo an seiner Hose oder seinem Mantel Blutreste anhafteten.
Melvin stand mit wackeligen Beinen auf und entfernte sich vom See. Er ging zu dem Ort zurück, an dem er seine Bluttat vollbracht hatte. Für einen kurzen Moment verlor er die Orientierung, doch schnell erkannte er den Felsbogen, durch den hindurch der Trampelpfad aus dem Wald führte. Der Bogen, an dem Melvin seinen Bruder Emil mit einem Stein erschlagen hatte.
Als der Mörder die Leiche seines Opfers betrachtet überkam ihn ein kleiner Anflug von Reue. Die guten Zeiten mit seinem Bruder mochte er nicht unterschlagen – und die gab es ohne jede Frage. Doch seinen Betrug, seinen schweren Verrat, konnte Melvin nicht vergeben. Emil hatte ihm die Frau genommen, sich hinterrücks mit ihr vergnügt, während er auf Handelsreisen war. Beide hatten ihm unfassbaren Schmerz zugefügt. Doch während er Henrietta aus welchem Grund auch immer noch verzeihen konnte, war es unmöglich seinem falschen Bruder Vergebung zu gewähren. Jetzt war dieser tot und Henrietta auf das Landgut ihrer Eltern geflohen.
Es war aber nicht dieser Verrat, der zu Emils Tod führte. Melvin mochte seinem kleinen Bruder nicht vergeben, doch emotionale Härte machte aus ihm noch keinen Mörder. Er wollte ihn nur von ihrem Geschäft ausstoßen. Dies wollte er ihm in dieser Nacht mitteilen. Seltsamer Ort, seltsamer Zeitpunkt – jenseits von Mitternacht mitten im Wald. Wichtig hierbei war jedoch die Symbolkraft.
Einer der schönen Traditionen zwischen den beiden Brüdern waren ihre nächtlichen Wanderungen. Ihr Vater hatte sie schon zu späten Stunden mitgenommen und ihnen alles beigebracht, was sie wissen mussten, um sich in der Finsternis zurecht zu finden.
Das Band zwischen ihnen während solch einer Wanderung zu brechen, die ein so wichtiger Teil ihrer brüderlichen Beziehung war, darauf kam es ihm an. Auch wenn Melvin etwas verwundert war, dass Emil überhaupt noch eingewilligt hatte, zusammen hinaus in die Wälder zu ziehen. Warum er dies tat, war ihm nun klar. Sein junger Bruder war es, der ihn töten wollte. Er war es, der zuerst die Faust erhob und mit dem Messer auf ihn losging, als Melvin ihm mitteilte, dass sie künftig getrennte Wege gehen würden und Emil das Geschäft, das ihr verstorbener Vater dem Älteren anvertraute, verlassen musste. Es war Emil, der seinen Bruder gezielt und in einem Akt der Niedertracht ermorden wollte. Hatte er wirklich nur im Affekt, aus Wut, gehandelt oder seinen Mordversuch von Anfang an geplant, da er damit rechnete, verstoßen zu werden? Oder hatte er seine Tat geplant, um Henrietta endgültig für sich zu haben? Wie dem auch sei: Melvin verteidigte sich nur. Er machte von dem natürlichen Recht Gebrauch, das jedes Lebewesen nutzte, um sein Überleben zu sichern.
Es war Notwehr, beschwichtigte er sich einmal mehr und die Reue verflog. Ich habe nichts verkehrt gemacht. Und es war nur recht und billig ihn zu verstoßen, den, der mich betrogen hat. Aber wie geht es nun weiter?
Melvin war sich klar, dass er die Leiche nicht einfach so auf dem Weg liegen lassen konnte. Selten kamen hier Menschen vorbei an diesen abgelegenen Ort und die meisten Menschen aus ihrem Dorf wussten wahrscheinlich nicht einmal, dass es diesen See gab. Aber falls sich doch jemand aus dem Zufall heraus her verirren würde? Auszuschließen war dies nicht. Er musste den Körper verstecken. Dabei fragte er sich, warum er sich überhaupt davor gewaschen hatte.
Sicherlich, er könnte auch zurück ins Dorf gehen und offen zugeben, dass er seinen Bruder getötet hatte. Ein Akt der Selbstverteidigung sollte schließlich überall auf Verständnis stoßen. Doch unter Berücksichtigung der Umstände mit Henrietta – wer würde ihm glauben? Am Ende landete er selbst am Galgen. Das Risiko war zu groß. Emil musste also verschwinden.
Nachdenklich blickte Melvin zum See. Da lässt sich bestimmt etwas machen.
Er packte den leblosen Körper an den Armen. Uff, ist der schwer.
Emil war zwar der jüngere der beiden Brüder, doch erheblich massiger gebaut als Melvin, der so dürr war, dass kein Bauer ihn zum Schieben eines Karren anweisen würde. Dass er sich überhaupt gegen seinen Angreifer zur Wehr setzen konnte, war auch nur ein unglücklicher Zufall. Die Gelegenheit ergab sich, als Emil auf gefrorenem Schotter den Halt verlor.
Mühsam und langsam zog Melvin den Toten über den rauen Boden. Immer wieder musste er den Leichnam absetzen und schwer durchschnaufen.
Schließlich erreichte er den See mit dem Keuchen, das beinahe dem Hecheln eines Hundes nach der Treibjagd glich. Aus seinen erschlafften Armen rutschte die Last wie ein Kartoffelsack, den man achtlos in den Keller warf. Unruhig wanderten seine Augen umher, um ein passendes Versteck zu finden.
Wo sollte sein Bruder sein unwürdiges Grab für seine letzte Ruhe finden? Im See? Vielleicht würde die Leiche allerdings nach einer Zeit wieder an die Oberfläche getrieben und an einer Stelle stranden, wo sie sichtbar für jeden Passanten war. Möglichst tief ins Schilf, wo niemand hineinwaten würde? Womöglich würden sich dann auch die einen oder anderen Tiere am Aas laben. Ja, warum nicht?
Der Täter atmete einmal tief durch und ergriff den leblosen Körper erneut. Er zog ihn in das Wasser hinein und kämpfte sich bis dorthin durch, wo das Schilf am höchsten war. Die tausend eisigen Nadeln, die bei jedem Schritt auf seine Beine einstachen, registrierte er nicht. Um ein Haar wäre er ausgerutscht, konnte sich aber im letzten Moment noch halten. Komplett vom eisigen Wasser bedeckt auf dem Heimweg wäre sein Tod – zumindest seiner Gesundheit schwer abträglich. „Sei vorsichtig“, mahnte er sich.
Letztendlich gelang es ihm, den Leib des Bruders inmitten der Gräser zu verbergen und so zu verdecken, dass jeder Ahnungslose, der den See besuchte, schon in direkter Nähe der Leiche stehen musste, um sie zu sehen.
Als Melvin wieder aus dem Wasser draußen war, blickte er sich noch einmal um zur Vergewisserung. Auch bei Tageslicht wäre Emil wohl nicht zu erblicken. Gut so. Den Rest übernimmt die Natur.
Melvin dachte darüber nach, wie leicht es ihm fiel, seinen toten Bruder, mit dem er so viel Zeit verbrachte, trotz seiner todbringenden Aggression, so einfach zu entsorgen. Und er fragte sich, ob die Gewissensbisse später einmal umso mehr an ihm nagen würden. Aber das sollte für das Erste nicht seine Sorge sein. Jetzt sollte er erst einmal nach Hause gehen. Es war doch immerhin ein Weg von knapp einer Stunde und etwas Schlaf wollte er sich noch gönnen.
Er und Emil waren den Weg schon so oft gegangen, dass er ihn auch in der Dunkelheit, selbst wenn der Mond nicht so hell scheinen würde wie in dieser Nacht, ohne Probleme und geradezu mit schlafwandlerischer Sicherheit beschreiten konnte. Doch es war sehr glatt an einigen Stellen und ein paar Stürme in den Wochen zuvor haben die Bäume morsch und gebrechlich gemacht. Vorsicht war also geboten.
Durch das Geäst und Gestrüpp kämpfend, das den schmalen Trampelpfad bedeckte, bahnte sich Melvin seinen Weg stoisch zurück. Von Zeit zu Zeit verhedderten sich dornige Ranken an seinem Beinkleid. Erschwerend kam hinzu, dass an den Abschnitten, an denen die Bäume eng aneinander standen, das Mondlicht kaum eine Chance fand, sich bis auf den kahlen Grund vorzukämpfen. Und so war der einsame Wanderer immer wieder gezwungen, sich behutsam voranzutasten.
Jeder Schritt, jedes Knacken und Knarren der Hölzer hallte in den Wäldern und irgendwo hinter ihm raschelte es. Davon ließ er sich nicht irritieren. Die Wälder waren sein Metier, sie konnten ihm keine Angst einjagen.
Melvins Weg führe ihn einer Felswand entlang sowie über eine verwitterte Brücke, die über einen schmalen Bach verlief und weiter über ein chaotisches Feld umgestürzter, kleiner Bäume. Hier war Handarbeit gefragt, um sich über einen größeren Stamm zu hieven, der unter sich etliche kleinere Bäume und Sträucher begraben hatte.
Danach verlief der Pfad ohne weitere Hindernisse und Melvin stapfte gemütlich und pfeifend vor sich hin. Von Zeit zu Zeit lichtete sich das Baumgewölbe etwas. Das einfallende Licht ließ das Schattenspiel Tannen, Fichten und Kiefern wie finstere deformierte Arme erscheinen, die aus einer anderen Welt heraus in die Freiheit griffen.
Die Zeit verflog. Wie lange war er unterwegs? Sein Zeitgefühl hatte ihn verlassen, doch allmählich beschlich ihn das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Es war schwer, sich wirklich zu orientieren, doch als er dabei war, einer Serpentine zu folgen, hielt er inne.
Hier bin ich sicher nicht lang. Melvin fluchte laut auf.
In all den Jahrzehnten hatte er sich nicht verlaufen. Es musste die Aufregung sein, die ihn in einem schwachen Moment die Konzentration stahl. Er schnaubte verärgert, aber auch besorgt. Der Wald war weitläufig und durchzogen von verschlungenen Pfaden, Sackgassen und Rundwegen. Allzu leicht war es, sich hier zu verirren und so mancher unkundiger Spaziergänger ging hier bereits verloren oder fand sogar den Tod. Einfach weiter darauf loszugehen wäre Irrsinn. Melvin dachte nach. Er war sich stets sicher, dass sein Vater ihn in diese Wälder gut unterwiesen hatte und er beinahe jedes Eck kannte. Doch auch wenn er sich noch so lange umsah, er erkannte keinen Anhaltspunkt zur Orientierung und auch diese Serpentine erschien ihm völlig unbekannt.
Es musste die Aufregung sein, redete er sich ein. Das was vorhin geschah, wühlte ihn noch immer so auf, dass seine Gedanken und sein Orientierungssinn vernebelt waren. So musste es sein. Vielleicht sollte er doch noch etwas pausieren und warten, bis sein Geist richtig entspannt war, bevor er weiter marschierte.
Ist das überhaupt möglich, dass ich mich vollends entspanne?
Er konnte natürlich auch ein Stück zurückgehen bis zu dem Stück, an dem die Bäume in Massen fielen. Diese hatte er auf dem Hinweg mit seinem Bruder auf jeden Fall passiert.
Zurückgehen und von dort schau ich mal weiter. So mach ich es.
Also kehrte er um und ging genauso zurück, wie er kam. Doch das botanische Trümmerfeld war nicht mehr aufzufinden. Ebenfalls nicht die Felswand oder die Brücke. Nichts an diesem Ort kam ihm bekannt vor. Baum reihte sich an Baum, wie eine Armee von Zinnsoldaten, einer glich dem anderen. Majestätisch, drohend und unheilverkündend. Vorwurfsvoll erhoben sie sich über den Verirrten, der einem Angeklagten gleich seinem Urteil entgegenzitterte und um sein weiteres Leben bangte. In der Tat stieg in Melvin nun ein starkes Unbehagen auf, das nahtlos in den Zustand der Furcht überging. Noch nie hatte er sich so verloren gefühlt, selten so verunsichert. War er dazu verdammt, in diesem Wald zu bleiben, bis das Tageslicht anbricht, bis er mit der Gunst des Sonnenscheins wieder auf den richtigen Weg finden würde? Vielleicht könnte er in dieser Kälte überleben. Warm genug war er angezogen. Unangenehme Begegnungen mit Wildtieren waren eher unwahrscheinlich. Wolfsangriffe gab es nur selten und Bären waren seit ewigen Zeiten nicht mehr gesichtet. Aber wie sähe es am Morgen aus? Mit der Frische des frühen Taues in der Nase und beschwingt vom Tageslicht, würde es ihm dann leichter fallen, nach Hause zu finden? Eventuell käme auch ein Wanderer vorbei, der ihm weiterhelfen konnte? Sollte er dennoch die Nacht nutzen, um weiter nach dem richtigen Weg zu finden? Oder sollte er an Ort und Stelle ausharren? Der verirrte Mann war unentschlossen. Rastlos lief er im Kreis und lies seinen Blick wild umherschweifen. Es war unmöglich, die verschlingende Schwärze inmitten der Baumreihen zu durchdringen. Mitten hindurch? Ausgeschlossen.
Erschöpft ging Melvin auf die Knie. Er atmete tief durch und genehmigte sich etwas von dem Brand, den er mitgenommen hatte. Er vergrub sein Gesicht zur Hilfe in seinem Mantel und flüsterte ein kleines Gebet vor sich hin, flehte, dass der liebe Herrgott ihn doch aus dem Wald führen möge. Er kauerte an Ort für Stelle für unbestimmte Zeit, erwartete jeden Moment den ersten zarten Hauch der Dämmerung, die ihre rötlich-orangenen Boten über den Horizont schickte. Sie ließ auf sich warten und warten. Er war müde, allerdings einschlafen durfte er nicht. Doch noch immer wusste er nicht, wie es weitergehen sollte.
Melvin blieb eine weitere Weile starr, in der ihm alle möglichen und wilden Gedanken durch den Kopf schossen und er hatte schon das Schreckensbild vor Augen, das er für andere Wanderer abgab, die über seinen gefrorenen, von Tieren angefressenen Leib stolpern würden.
Soll ich wirklich so enden? Ist das die Strafe für meine Tat? Waren mein Bruder und ich so verbunden, dass, wenn der eine stirbt, es der andere ihm gleich tun muss? Ach, was. Dummes Gewäsch. Er verwarf diese absurden Gedanken kopfschüttelnd. Bleib bei Sinnen, Melvin.
Ein Knacken. Melvin hielt inne. Ein weiteres. Es war nicht das Knacken einzelner Äste, wie sie im Wald für gewöhnlich waren. Er hörte Schritte. Jemand kam auf ihn zu. Ein Tier? Er blickte in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Er sah einen Schatten, eine Silhouette, die nicht der eines Tieres glichen. Es war ein Mensch. Ein Räuber? Das wäre noch schlimmer.
„Wer ist da?“, sprach der kauernde Mann zögerlich der nahenden Gestalt entgegen.
„Sieh an. Noch jemand unterwegs zu dieser späten Stunde. Oder sollte ich sagen: frühe Stunde. Immerhin ist ja schon nach Mitternacht.“ Ein Lachen ertönte. Die Stimme klang alt und verwelkt.
„Wer ist da?“, wiederholte Melvin. „Wer bist du?“ Er stand auf.
Der Schatten kam näher. „Keine Sorge. Eine einsame Wanderin bin ich.“ Es war eindeutig eine Frau. „Ich vertrete mir nur etwas die Beine, so wie du.“
„So spät? Das glaube ich kaum.“
„So? Was ist denn so ungewöhnlich. Du bist ja scheinbar auch unterwegs.“
„Ich bin ein Mann, kräftig und ich kenne diese Wälder und du bist…“ In der Dunkelheit konnte er ihr Gesicht nicht erkennen, doch Haltung, Gang und ihre Stimme verrieten, dass diese Person schon ein hohes Alter erreicht hatte.
„… du bist offenkundig ein altes Weib. Und die gehören ohnehin nicht in solch einen verwinkelten Wald. Und erst Recht nicht zu solch später Stunde.“
„Du kennst den Wald also?“, fragte die Alte skeptisch. „Für mich mutet es aber etwas an, als hättest du dich verlaufen. Ich kenne diesen Wald jedoch tatsächlich. Ich bin in ihm aufgewachsen, habe mein Leben in ihm verbracht. Kenne jedes Eck, jede Pflanze, jeden Baum und jedes Tier. Der Wald ist sozusagen meine Heimat, die ich über alles liebe und das zu jeder Stunde. Daher lass ich mich nicht von Wind und Wetter noch von der Uhrzeit davon abhalte, inmitten dieser wunderbaren Fauna und Flora zu spazieren. So spät ist es sogar noch besser. Da ist nicht zu viel los. Aber ab und an trifft man doch jemanden. So jemanden wie dich.“
„Nun gut, ich gebe zu, ich habe mich verlaufen“, räumte Melvin missmutig ein. „Ich bin praktisch auch in diesem Wald aufgewachsen, war zumindest sehr oft in ihm unterwegs. Aber irgendwie kam ich doch etwas vom Weg ab.“
„Zu viel getrunken? Das kann noch den aufgewecktesten Geist lähmen.“
„Einen Schluck hab ich dabei, aber nicht so viel getrunken, um mir den Verstand zu rauben. Was soll ich sagen? Wem geschah es nicht, dass er auch in etwas versagte, mit dem er vertraut war. Bedauerlich, aber keine Schande.“
„Fürwahr. Eine Schande ist es nicht. Aber du kannst vom Glück reden, dass ich vorbeikam. Ich kann dich herausführen. Ich könnte dich auch mit zu meiner Hütte nehmen, wo du nächtigen könntest. Da wir aber nicht so weit vom Waldesrand weg sind, bringe ich dich lieber dorthin. Wo hin musst du denn genau, du verlorener Wandersmann?“
„Zum Dorf am nördlichen Rand, das das hinter den Feldern des Bachstein-Gutes liegt. Du müsstest es doch kennen.“
„Oh ja, das tu ich“, bestätigte die alte Frau. „Wer kennt es nicht? Du hast auf jeden Fall Glück. Du bist nur ein bisschen vom Weg abgekommen. Ich kann dich leicht auf den richtigen Pfad führen, noch besser, ich bringe dich wirklich bis zum Rand. Dann kann gar nichts mehr schiefgehen.“
Merkwürdig. Melvin dachte über das nach, was das Weib ihm gerade erzählte. Er war angeblich nur ein bisschen vom Weg abgekommen. Aber warum kam ihm dennoch alles so unbekannt vor? In unmittelbarer Nähe des Pfades, der vom Gut her in den Wald führte, hatte er sein Leben lang alles erkundet. Gab es da tatsächlich noch einen Abschnitt, den er über all die Zeit übersehen hatte? Er mochte es kaum glauben. Und irgendwie war die Frau ihm unheimlich. Aber was sollte er machen? Es blieb ihm wenig übrig, als dass er auf ihre Hilfe vertraute. Was sollt auch geschehen? Wollte sie ihn überrumpeln? Niederschlagen? Auch wenn er nicht der stärkste war, den Angriff eines räuberischen Weibes konnte er wohl mit Leichtigkeit abwehren. Sie konnte ihn natürlich auch in eine Falle führen. Aber letztendlich war es nicht so, dass er eine große Wahl hatte. Mit ihr gehen und unter Umständen eine böse Überraschung erleben oder alleine weiterhin zurückbleiben und sich der Laune der Natur aussetzen. Dies musste wohl so eine Situation sein, die der Dorfpfarrer gerne verglich mit der Wahl zwischen Skylla und Char…Chari…irgendwie so verglich.
„Na gut“, sagte er äußerlich entschlossen, doch mit mulmigen Gefühl. „Bring mich zurück. Ich werde es dir auch vergelten.“
„Ach, das ist nicht notwendig. Was wäre ich für eine schlechte Christin, die einen Vorteil aus der Notlage meines Nächsten ziehen würde. Dafür müsste ich mich auf jeden Fall vor Petrus rechtfertigen und da ich schon so alt bin und kommt dieser Moment schon so bald, dass ich auch nicht darauf hoffen brauche, dass man das vielleicht in all dem Trubel an der Pforte über die Jahre doch vergessen würde.“ Die Alte stieß ein süffisantes Lachen aus. Melvin lachte künstlich-verlegen mit.
„Das ist wohl wahr“, sagte er. „Dann sollten wir aber auch gleich losgehen, würde ich sagen.“
„Jüngelchen, das wollte ich auch gerade sagen. Folge mir.“
Die beiden gingen los. Melvin hielt sich dicht an seine Führerin, die, so bemerkte er, für ihr Alter noch recht gut zu Fuß war. Sicherlich zeigten sich ihre vielen Lebensjahre etwas in der Art, wie sie ging, doch überhaupt dann noch unter solchen widrigen Wetterbedingungen, in dieser eisigen Kälte, umherzuwandern, zeugte von einer Rüstigkeit, die er durchaus beachtlich fand. Ob ich als Greis auch noch so aktiv sein kann?
„Wie lange bist du schon unterwegs?“, fragte er die Frau.
„Oh, das kann ich nicht sagen. Zeit interessiert mich auch nicht. Ich gehe los und so weit und so lange ich gehe, so gehe ich halt. Und irgendwann komme ich heim. Reicht das denn nicht? Ich habe ja jetzt auch keinen wichtigen Verpflichtungen mehr nachzukommen.“
„Und wo ist deine Hütte? Ich hätte nicht gewusst, dass hier eine ist.“
„Sie ist etwas versteckt, das gebe ich zu. Ich wüsste aber auch nicht, wie ich das jetzt genau beschreiben soll. Aber ich bin dort aufgewachsen und lebe dort seit jeher mit meiner Familie.“
„Und die Familie lebt immer noch mit dir zusammen dort?“
„Hmmm. Genug jedoch von mir. Was machst du denn so allein hier draußen? Magst du Nachwanderungen?“
Kein falsches Wort jetzt. In der Tat ist es so. Ich mag diese Wälder. Wanderungen in der Nacht waren so eine Tradition von meinem Vater und mir. Ich wollte nach seinem Tod die Tradition weiter aufrechterhalten und ihn damit ehren.“
„Das klingt schön. Ich finde es immer wieder entzückend, wenn die Jungen Traditionen weiterleben lassen. So selbstverständlich ist das nicht mehr. Und vor allem erfreut es mich, wenn Menschen nicht so viel Angst vor der Natur haben. Geschichten von blutgierigen Wölfen, Hexen und Dämonen sorgen dafür, dass sich alle gemütlich in ihren Häusern verschanzen und Gott um Schutz anbeten. Das mag zuweilen ganz sinnvoll sein, doch die Natur und damit auch den Wald zur großen Bedrohung zu erklären, erscheint mir auch nicht gerade zielführend.“
„Da mag was dran sein“, stimmte Melvin zu. „Ich denke nur nicht, dass mein Vater so begeistert wäre, sähe er, dass ich mich tatsächlich verlaufen habe und die Hilfe einer Alten brauche. Er würde ungläubig den Kopf schütteln…oder meinen Kopf in eiskaltes Wasser tauchen, damit ich wieder konzentriert bin.“
„War er ein strenger Mann?“
„Mehr oder weniger. Aber auf jeden Fall bewunderte ich ihn.“
„Das ist gut so. Eltern achtet man. Und was machst du bei den nächtlichen Wanderungen so? Einfach umhergehen? Oder geht es dann noch auf die Jagd?“
„Nein, Jäger bin ich keiner. Angefangen hat es wohl eher damit, dass wir…ich meine, ich abgehärtet werden sollten. Vater dachte wohl, dass es den Charakter formt, nachts durch den Wald zu laufen. Aber dann hat es irgendwann auch Spaß gemacht. Tja und jetzt bin ich hier.“
„Ich hoffe, diese schlechte Erfahrung heute wird dir aber die Freude an der Natur nicht nehmen.“ Die Frau summte etwas vor sich hin.
„Ich denke nicht. Aber ich werde künftig noch besser aufpassen.“
„Und du gehst dann immer allein hier durch den Wald?“ Zwischen ihren Worten summte sie leicht weiter. Melvin war etwas irritiert darüber, wie leichtfüßig und unbekümmert seine Begleiterin war. Seltsam. Seltsam. Dies Frau ist schon kauzig.
„Ah sie mal!“, rief die Alte begeistert auf.
„Was ist?“
„Schau dort.“ Sie zeigte zum Fuß einer halb rasierten Tanne. „Siehst du es? Da ist eine Blume, eine ganz seltene Blume.“
„Blumen gibt es zu dieser Zeit wohl kaum.“
„Oh, eine blüht aber zu dieser Zeit besonders“, belehrte die alte Frau. „Nur selten, aber sie blüht. Schau doch hin.“
„Ich sehe nichts.“
„Du musst näher rangehen. Deine Augen sind wohl nicht so gut wie die eines alten Weibes, das schon fast neun Jahrzehnte auf dieser Erde weilt. Das sollte dir zu denken geben. Schau genauer hin.“
„Ich sehe immer noch nichts.“ Die Frau wirkte ziemlich aufgekratzt. Er wollte ihr den Gefallen tun und näherte sich der Tanne, um zu sehen, ob da diese ominöse Blume war, die seine Begleiterin meinte, gesehen zu haben.
„ Also, da ist wir…“. Abrupt wurde Melvin abgebrochen. Das Gewicht der Frau, die ihn hinterrücks ansprang drückte ihn unweigerlich zu Boden. Ihre Hände Umschlungen seinen Hals und ihre Beine umschlossen seine Taille. Mit Mühe hievte er sich auf.
„Was zum Teufel! Lass mich los, du alte Fettel, bevor es dir Leid tut.“ Ich hätte es ahnen müssen. Ein Großmütterchen, das sich zu der Zeit hier herumtreibt, kann nicht bei Verstand sein.
„Oh nein, ich lass dich nicht mehr los.“ Ihre Stimme klang verändert. In ihr lag nicht mehr die knarzige, doch gütige Schwere einer alten Frau, sondern vielmehr Häme und Gemeinheit. Schrill, ätzend und begleitet von einem Gelächter, das nur von jemandem stammen konnte, der sich an jeder Art der Schadenfreude aufbaut.
„Oh jetzt gehörst du mir. Jetzt bist du mein schönes Transportmittel“, ätzte die Frau oder was auch immer Melvin nun auf seinem Rücken hatte, ins Ohr. Er versuchte die Hände seines Angreifers zu lösen. „Herrgott, was ist das!“ schrie er angewidert auf, als er statt in runzeliger Haut über schroffes Gestein und einem Geschwür tastete, das unter seinen Fingernägeln aufplatzte, sodass zähflüssige Schmiere über seine Fingerkuppen lief und ihm ins Gesicht spritzte. Ekelhaft. Er würgte auf. Das Ding auf seinem Rücken lachte hysterisch und sang ein bisschen dabei, verhöhnte sein Opfer und umklammerte es noch fester, gerade noch so locker, dass Melvin ein bisschen Luft einsaugen konnte. „Also los!“, befahl es. „Trage mich.“
„Das werde ich nicht“, schnaufte Melvin sich heftig schüttelnd, um sich schlagend und auf die beiden grotesken und verklebten Hände der Gestalt einschlagend. Vergeblich.
„Du willst nicht runter?“, sprach er drohend. „Gut, wie du willst. Ich bringe dich dazu.“ Er zog sein Messer und stach auf die Arme ein, die ihn ihm Klammergriff hielten. Sein Angreifer zeigte sich davon unbeeindruckt – selbst als er nach hinten auf den Körper der Kreatur einstach, die wohl nicht allzu groß sein konnte. Diese sagte nur: „Vorsicht Junge, du zerstichst dir am Ende noch den Hals. Hat dir dein Vater, der ja alles so über den Wald weiß, nicht gesagt, wie man ein Messer richtig nutzt. Und dass Missbrauch gefährlich ist? Nein? Hahaha. Also los, mein kleines Reittier. Trage mich.“
„Wer bist du? Was bist du? Sag mir das wenigstens das.“
Der deformierte Kopf schob sich über Melvins Schultern. Es war hell genug, um zu erkennen, was Melvin nie hätte sehen wollen. Das kleine Viech, das jetzt eine Kapuze trug, war im Gesicht derartig verunstaltet, so grotesk verzerrt, dass keine Menschlichkeit mehr zu erkennen war, als hätte der Folterknecht über Monate seinen Spaß mit ihm gehabt. Sein boshaftes Grinsen offenbarte eine Reihe krummer Dolche im Maul und die Nase war praktisch nur ein Loch.
„Ich..,“, sagte das Wesen, wobei sein säuerlicher Atem Melvins Magen revoltieren lies. „… bin ein Aufhocker.“
„Ein was?“
„Ein Aufhocker und du musst mich jetzt tragen.“
„Ich will dich aber nicht tragen. Runter von mir, du Scheißviech.“
„Du musst, denn ich mach dir einen Vorschlag.“ Es lachte beinahe schon irrsinnig. „Trage mich bis zu deinem Dorf und dann lass ich dich frei.“
„Und wenn ich nicht will?“
„Dann bleibe hier an Ort und Stelle bis du stirbst. Los kriegst du mich nicht mehr. Also, trage mich bis zu deinem Dorf. Ich habe dir auch eine kleine Chance gegeben und auf den richtigen Weg gebracht. Vielleicht schaffst du es ja.“
Ein Aufhocker? Davon hatte er noch nicht gehört. Es kursierten zwar allerhand Märchen und Schauergeschichten über die Wesen des Waldes, die sich Kinder und Abergläubische erzählten, um andere mit ihrer Dümmlichkeit und irrationalen Angst zu infizieren, Melvin gehörte aber nie zu denen, die auch nur einen Moment damit verschwendeten, über solche Hirngespinste nachzudenken. Das kann doch nur ein schlechter Traum sein? Wahrscheinlich bin ich vorhin im Sitzen eingeschlafen und ich träume das Ganze nur. Wahrscheinlich bin ich nicht mal in den Wald gegangen und liege nur im Bett. Nichts in dieser Nacht ist passiert. Doch dieser Traum fühlte sich zu real an – und zu schmerzhaft. So klein, wie das Vieh, das ihn als Tragetier verwendet, sein musste, sein Gewicht war erdrückend. Es schien ihm, als würde er ganze Felsbrocken auf sich schultern. Er stöhnte.
„Na, werde ich schon schwer?“ Der Aufhocker lachte einmal mehr. „Du solltest jetzt wirklich los, wenn du noch eine Chance haben willst.“
Was bleibt mir anderes übrig? „Aber wenn ich das Dorf erreiche, dann verschwindest du?“
„Ich verspreche es.“
„Ich traue dir zwar kein bisschen, aber im Dorf wird man schon eine Möglichkeit finden, dich notfalls anderweitig zu entfernen.“
„Wir werden sehen. Folge einfach dem Pfad.“
Melvin setzte seinen Weg fort in die Richtung, in der er vorher mit der alten Frau gegangen ist, jetzt mit seinem ungewöhnlichen, hässlichen und spöttischen Gepäckstück, das mit jedem Schritt schwerer werden zu schien. Aber es ließ sich noch schultern. Stoisch marschierte Melvin den Weg entlang, während der Aufhocker allerhand undefinierbare Geräusche von sich gab, als fräße er und wälzte sich gleichzeitig mit den Schweinen im Schlamm.
„Und jetzt sag mal ehrlich“, sprach er irgendwann. „Was hast du im Wald wirklich gemacht?“
Melvin ignorierte ihn, doch das Wesen ließ nicht locker.
„Will er nicht reden? Komm sag schon. Sag schon. Sag schon.“ Diese beiden Worte widerholte es unablässig als Mästung, um mit jedem weiteren Ausspruch an Gewicht zuzulegen. Irgendwann war es Melvin genug.
„Ich sagte schon, ich war wandern. Und jetzt halte dein hässliches Maul.“
„Oh wandern, natürlich, wer wandert nicht einfach in der Nacht einfach zum See.“
„Halt. Woher weißt du, dass ich beim See war?“
„Ist doch egal, woher ich das weiß. Aber ich weiß es. Und ich weiß auch, dass du bereits etwas geschleppt hast. Etwas, dass nicht ganz so lastet wie ich. Aber da hast du dich ganz schön angestellt. Aber wie ich jetzt sehe, kannst du ja doch ordentlich etwas tragen, wenn es darauf ankommt.“ Die Kreatur machte eine kurze Pause und ergänzte mörderisch knurrend: „Aber wie lange noch?“
„Solange, bis ich dich Scheusal wegkriege.“
„Haha, der war gut. Du kannst ja jetzt kaum laufen.“ So unrecht hatte es nicht. Melvin schnaufte, schwitzte und stampfte behäbig. Der Schmerz strahlte von seinen Schulter allmählich bis in den Rücken aus und er konnte spüren, wie die Kraft zunehmend aus seinen Beinen schwand.
„Dich schaffe ich noch.“
„Was abzuwarten wäre. Aber ich mache dir einen fairen Vorschlag.“
„So? Was für einen Vorschlag kannst du mir machen?“
„Ich werde meine Last lindern, vorläufig. Wenn du mir ein Geständnis machst. Ihr Menschen beichtet doch so gerne.“
„Was soll ich beichten?“
„Deine größte Schuld.“
„Meine größte Schuld? Was geht dich das an?“
„An sich nichts. Wenn du nicht willst, dann sag nichts, beschwer dich aber nicht, wenn du umkippst wie eine Mistgabel, die der Bauer achtlos hinwirft. Du hast heute etwas getan und das kannst du mir beichten. Findest du nicht auch?“
„Du hast mich ja offenkundig beobachtet“, knurrte Melvin im Wissen, wohin das Spiel des scheußlichen Wichtes gehen sollte. „Was sollte ich dir dann noch neues gestehen können?“
Brennende Kohlen fielen auf Melvins Schultern. Er kämpfte sich ab, den Schmerz zu unterdrücken und verlor dabei fast die Balance.
„Obacht, tu dir nicht weh“, höhnte der Aufhocker. „Wenn du hinfällst, dann hast du gleich verloren. Aber ich will wissen, warum du deinen Bruder getötet hast.“
„Woher weißt du, dass er mein Bruder war?“
„Fragen, Fragen, Fragen. Ich will Antworten.“
„Er hat mich angegriffen.“
Sein Knie stand vor dem Bersten. Der Wicht musste sein Gewicht verdoppelt haben.
„Ok“, keuchte Melvin ausgelaugt hervor. „Ich habe ihn getötet, weil er mich betrogen hat. Er hat mir die Frau genommen. Er hat mich nicht angegriffen. Er hat sich verteidigt. Ich habe ihn in voller Absicht getötet. Und ich habe mir eingeredet, dass ich es war, der sich verteidigt hat. Ist es das, was du hören wolltest?“
Wie andere sich abkrampften, eine Klippe zu besteigen, musste Melvin ähnliche Mühen auf sich nehmen, um diese Worte hervor zu speien. Kaum hatte sein Geständnis seinen Mund verlassen, entwich mit ihr auch etwas Schwere. Sie war noch immer da, aber wieder etwas erträglicher. Allerdings wusste Melvin genauso, dass sein Peiniger nur ein sadistisches Spiel mit ihm trieb. Würde er nicht bald das Dorf erreichen, wäre bereits ein größerer Ast eine Belastung, die er nicht mehr stemmen könnte. Er sammelte seine Kraft und stapfte fest entschlossen, diese Kreatur zu besiegen, voran. Jedoch nicht zu schnell. Energie sparen musste er dennoch, so gut wie es ging.
Melvins Strapazen feuerte der Aufhocker mit unmelodischem Gesang und Sprüchen an, die man einem Pferd zuwarf. Vergnügt wie bei einem Gelage lallte, schrie und grunzte er. Je mehr er sich amüsierte und je lauter sein Lachen wurde, desto schwerer wurde er wieder. Schnell war Melvin erneut an seiner Belastungsgrenze. Das unförmige Wesen hatte einen untrüglichen Sinn dafür, wann sein Opfer wieder kurz davor war, zusammenzubrechen. Dann entlastete er es. Klar, er konnte nicht wollen, dass sein Reittier die Abmachung wirklich gewinnen würde, doch Melvin war sich sicher, dass der Aufhocker ebenso wenig wollte, dass er zu früh aufgab. Das Wesen wollte den Wanderer in die Knie zwingen, aber doch so lange als Reitmittel nutzen, wie es ging, sich an seinem Leiden ergötzen und den richtigen Moment finden, um seinen Triumph einzuleiten.
Melvins Schritte wurden immer bleierner, sein Atem unregelmäßig. Das Seitenstechen war unerträglich.
„Vielleicht wird es Zeit für ein weiteres Geständnis“, schlug der kleine Quälgeist vor. „Dann wandert es sich doch gleich bequemer weiter. Meinst du nicht auch?“
„Was willst du…“. Gequältes Ächzen. „Was willst du jetzt noch wissen?“
„Du sagtest, dein Bruder hätte dir die Frau genommen? Warum das?“
„Warum? Weil er ein Arschloch war. Darum.“
„Und du findest keinen Grund, warum die beiden zueinander gefunden haben?“
„Was soll es einen Grund geben? Sie war meine Frau. Er, niemand, hat sich an sie heranzumachen. Sie gehörte mir. Und doch ließ sie sich mit meinem eigenen Fleisch und Blut ein, meinem nächsten Verwandten und dann haut sie noch ab. Und ihre Eltern lassen mich nicht mit ihr reden. Was ist das für eine Ungerechtigkeit?“
„Ist es so? Eine Ungerechtigkeit?“
„Ja“, röchelte Melvin. Sein Mund war trocken, seine Kehle mit Sand gefüllt. Ich brauch was zum Trinken.
Er hatte jedoch nur seine Feldflasche mit Brand dabei. Starker Alkohol in seiner Lage wäre fatal. Er blieb stehen, hustete und stöhnte laut auf. „Kurze…kurze Pause. Ohhh.“
„Die Pause bringt dir auch nichts.“
Melvins Beine schienen gebrechlich wie Holzstecken. Noch nie im Leben hätte er sich so gerne hingelegt, einfach nur hingelegt und Tage durch geschlafen. Die kleinen ebenen Flächen zwischen den Bäumen wirkten überaus einladen, aber es war eine trügerische Schönheit wie vergiftetes Katzengold. Der Aufhocker sagte, dass, wenn er einmal am Boden wäre, nicht wieder hochkäme. Er wollte er nicht austesten, ob er die Wahrheit sprach. Ich muss weiter. Mit aller Kraft.
Als könnte sein Reiter Gedanken lesen, sagte er: „Du kannst weiter. Sag mir aber erst, warum deine Frau erst zu deinem Bruder und dann zu ihren Eltern geflohen ist.“
In seiner Agonie brüllte Melvin: „Jaaa. Ich habe sie verjagt.“ Er senkte seine Stimme. Sein Kopf glühte, das Herz raste am Limit. „Ich habe sie verjagt. Ich habe sie geschlagen. Oft, wenn ich getrunken habe. Ja, ich habe sie nicht immer gut behandelt. Das heißt aber nicht, dass ich sie nicht liebte. Ich hätte es noch besser machen können.“
„Soso. Hinterher wollen sie immer alles besser machen.“
Melvins Körper war so erhitzt, dass selbst der Tränenrinnsal, der ihm über die Wange glitt, wie ein Strom von kochendem Wasser war. „Es tut mir ja alles so schrecklich Leid“, schluchzte er. „So schrecklich Leid.“
„Tja, wenn es später einem Leid tut, bringt es auch nichts. Oft muss man schlicht die Konsequenzen ausbaden.“
„Warum lässt du mich nicht einfach gehen“, flehte Melvin, sich gerade noch zittern aufrecht haltend. „Bitte, ich bitte dich um Erbarmen. Lass mich einfach gehen.“
„Ich lasse dich gehen. Also gehe weiter bis zum Ende des Waldes. Siehst du, das Gewissen ist doch schon etwas erleichtert, hahaha.“
Tatsächlich spürte Melvin, wie sein Stand wieder stabiler wurde. Sein gesamter Rücken brannte immer noch höllisch. Er hatte jedoch nicht mehr das Gefühl, dass ihm jeden Augenblick die Wirbelsäule durchbrechen könnte.
„Auf, auf, zum Endspurt“, spornte der Aufhocker sein Reittier voller Spott an. „Es ist nicht mehr weit. Aber jetzt kann ich dir keinen Aufschub mehr gewähren. Jetzt musst du es alleine schaffen. Ich bin gespannt.“
Du mieser kleiner Dreckskerl. Sobald du von mir unten bist, werde ich dich umbringen.
Melvin nutzte den neuen Energieschub und ging weiter. Lange hielt seine Kraft nicht und schon bald kam es ihm wieder vor, als wäre er mit dem Schmiedehammer niedergeschlagen worden. Derweil hellte der Himmel etwas auf. Der Morgen brach an. Die Sicht wurde klarer. Und was Melvin insbesondere in Jubelchöre ausbrechen lassen hätte, wenn er dazu noch die Energie gehabt hätte: Die Bäume lichteten sich. Zwischen dem Dickicht war in geringer Ferne die Lichtung zu sehen. Ich bin gerettet.
Schließlich war sie da, die letzte Gerade, das letzte Stück des von Bäumen gesäumten Weges. Da vorne war der Ausgang, der Waldrand. Durch das einfallende Licht der Morgenröte schien der Durchgang wie die verheißungsvolle Himmelspforte.
Für dieses letzte Stück gab Melvin noch einmal alles. Seine ganze Kraft, seinen ganzen Willen zum Überleben. Er biss sich auf die Lippen und schleppte sich Meter für Meter. Jeder Schritt eine Pein. Auch der Aufhocker legte sich nochmal ins Zeug. Der Hütte gleich auf brüchigem Untergrund belastete er sein menschliches Gefährt. Er schien dem Gewicht nach nun eine gigantische Größe erreicht zu haben. „Oh nein, du kommst mir nicht davon, Freundchen“, keifte er. „Ich werde dich niederringen.“
Ohne der Kreatur noch weitere Aufmerksamkeit zu widmen, kämpfte sich Melvin weiter voran, befehligte seinen Geist zu dem unvorstellbaren Willensakt, sein zutiefst malträtiertes Fleisch dazu anzutreiben, die körperliche Grenze zu sprengen und die absolute Kraftlosigkeit zu überwinden.
Immer näher kam die Weide, das Tageslicht strahlte heller. „Oh nein“, kreischte der Aufhocker. „Es ist so grell. Mach das es aufhört.“
So ist das also. Du hasst Sonnenstrahlen? Dann sehen wir jetzt mal, wer stärker ist.
Jeder Schritt, allein jede Bewegung des Beines war eine Kraftanstrengung, die noch Sisyphos in Erstaunen versetzen würde. Nach jedem Schritt machte er eine Pause, die ewig zu dauern schien, doch Melvin hielt sich auf den Beinen.„Du kannst dich noch retten“, zischte Melvin. „Spring ab und verkriech dich wieder in den Wald.“
„Nichts da. Gib du einfach auf und lass dich hinfallen. Du hast doch ohnehin nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnt.“
„Das mag sein, aber von so einem Wicht lass ich mich nicht besiegen.“
„Deine Lebenskraft gehört mir.“
„Die hätte dir schon lange gehört. Du warst zu gierig in deinem schlimmen Spiel. Jetzt nimm, was du schon hast oder lass dich von der Sonne verbringen.“
Das Wesen tobte und fluchte, gurgelte Unverständliches in seinem Anfall und plärrte so laut, dass man es durch den ganzen Wald hören musste.
„Verflucht seist du. Du hast gewonnen. Aber ein Mörder bist du dennoch. Du bist ein Mörder und ein Frauenschläger. Ein schlechter Mensch bist du. Ganz egal, wie sehr du dir anderes einredest und die Wirklichkeit in deinem armseligen Hirn verdrehst. Du bist ein schlechter Mensch. “
Dann kam die Stille. Die Last ließ nach. Die widerlichen Hände verschwanden. Melvin war frei. Er blickte sich um. Der Aufhocker war verschwunden. „Ja, zieh dich zurück, in das Loch, wo du herausgekrochen bist“.
Ich bin ihn los. Ich bin ihn los. Melvin lachte, ein Ausdruck der Erleichterung zierte sein Gesicht. Sein Geist hatte seine Pflicht getan. Es hat seinen Körper bis über sein Limit hinaus angetrieben. Nun durfte das Fleisch ruhen. Wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte, sackte er zusammen.
Der harte Winterboden war sicherlich nicht bequem, aber das war zweitranig. Er würde jetzt erst einmal eine Zeit lang hier liegen bleiben und sich erholen. Dann würde er in sein Haus gehen und dort noch mehr schlafen und auf jeden Fall viel trinken. Er würde sich erst einmal ausgiebige Ruhe gönnen. Dann würde er einen Brief für seine liebste Henrietta schreiben. Eine Entschuldigung für seine Missetaten und er würde ihr alles Gute für ihre weitere Zukunft wünschen. Als nächstes würde er die Einnahmen aus seinem Geschäft nehmen, sein Geldvermögen und es spenden. Dem Waisenhaus? Vielleicht für die Forschung oder dem Spital in der Stadt. Irgendwem, der das Geld gebrauchen könnte. Mit dem Geschäft an sich soll dann verfahren werden, wie es der herrschaftlichen Vertretung beliebt. Dann würde er zur nächsten Patrouille der Wache gehen und sich selbst für den Mord an seinem Bruder anzeigen. Man wird ihn dafür hängen, aber wenigstens hatte er sich nicht von einem Fabelwesen besiegen lassen.
Bild von Florian Kurz auf Pixabay
Die Last der Schuld

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