Durch das Meer des Stumpfsinns

Von Geburt an hatte 1023 seine Nummer. Und die Menschen um ihn herum trugen Nummern. Jeder hatte eine ihn zugewiesene Aufgabe, die unabänderlich war. Arbeiten, bisschen Freizeit am Abend, Schlafen und wieder Arbeiten und zwischendrin mal einen Tag frei, um zu Kräften zu kommen und neue Energie für die Arbeit zu sammeln. So war der Alltag auf der Insel. Alle fanden sich mit dem Los ihrer Existenz ab.
Nur ein kleiner Plantagenarbeiter, der, seit er denken konnte, auf die körperliche Arbeit konditioniert wurde, begann damit, Fragen zu stellen. Das war er, die kleine, unbedeutende Nummer 1023. Die Gedanken kamen aus heiterem Himmel und schossen wie ein Blitz in seinen Geist just in dem Moment, als er den merkwürdigen Brief las, der mit einer Flaschenpost an den Strand gespült wurde. Die Worte waren nichtssagend: Strebe nach mehr. Komm zu uns. Fahre los ins Unbekannte. Lass dich nicht von den Fluten des Meeres davontreiben.
1023 konnte sich auf diese kryptische Aufforderung keinen Reim machen, dennoch entfachte sie etwas in ihm wie Benzin, das sich auf glimmernde Glut ergoss. Er wollte wissen, wer „sie“ waren, die diese Nachricht den Weiten der See übergaben und auch, ob es mehr gab als diese Insel, die für ihn nicht nur Heimat, sondern die ganze Welt war. Niemand konnte oder mochte ihm darauf antworten. „Mach deine Arbeit“, erwiderten sie und „wer will das wissen?“.
„Es ist gemütlich geordnet hier. Niemand will wissen, was im Meer ist außer Fische“, sprachen andere.
„Du denkst zu viel darüber nach“, wurde er gemaßregelt. Eine Antwort war frustrierender als die andere und so beschloss 1023, dass er diese Gesellschaft, die auf einmal keinen Reiz mehr für ihn hatte, verlassen musste. Keiner hielt ihn davon ab, doch begleiten wollte ihn auch niemand. So klaubte er heimlich etwas Proviant zusammen und schnappte sich ein Segelboot der Fischer, um hinaus zu fahren in unbekannte Gefilde. Wohin genau? Das wusste er nicht. Was ihn erwarten würde? Die Ungewissheit war sein Begleiter. Und auch wenn sein Unterfangen nicht nur waghalsig, sondern geradezu irrsinnig war und die Chance auf Erfolg, worin immer dieser bestand, noch so gering, so trieb es ihn an, loszuziehen.
Die Insel verschwand rasch hinter dem Horizont, sodass 1023 bald ganz allein war in seinem Boot, das auf und ab trieb auf dem Wellengang gleich eines azurfarbenen, glänzenden Seidenbandes im Wind.
Auf seiner Überfahrt ins Nichts fragte er sich, ob man ihn vermissen würde. Immerhin ging eine wertvolle Arbeitskraft ab, die auch irgendwie ersetzt werden musste. Vielleicht gab es aber einen Nachwuchs, der bereits alt genug war, um seinen Platz einzunehmen. Womöglich fand sich ein Ersatz in einer anderen Kommune der Insel, die angeworben werden konnte. Aber was kümmerte er sich noch darum. Er war fort, frei von jenen Zwängen, die sein Handeln bis zu diesem Tag bestimmt hatten.
Allein auf dem Meer verlor der Reisende ohne Namen jegliches Zeitgefühl. Mochten Tage vergehen, Wochen oder Monate auf den endlosen Weiten des Ozeans, der jeden Tag aufs Neue den gleichen Anblick bot und genauso gleich waren die Gedanken des Seefahrers, die stets auf der Flaschennachricht verharrten. 1023 versuchte, sinnvolle Gedanken darüber zu fassen, was ihre Bedeutung war und was ihn womöglich an dem Ort, von dem aus sie auf ihre Reise geschickt wurde, erwarten konnte. Doch dies war mit solchen Anstrengungen verbunden, dass ihm der Kopf bereits nach kurzer Zeit grausam brummte. Dann lies er ab und legte sich wieder gedankenlos hin, um einfach nur den Himmel anzustarren. Irgendwann sah er eine Menge Treibgut an der Reling vorbeitreiben. Darunter nahm er eine kleine Kiste wahr, die seine Neugier erweckte. Er ergriff die beiden Ruder und hielt auf die Kiste zu, um sie an Bord zu ziehen. Der Behälter war nur behelfsmäßig mit einem Seilknoten geschlossen. Es bedurfte keine großen Mühen, um ihn zu öffnen. Was 1023 als Inhalt fand, machte ihn ratlos. Es waren Blätter. Blätter mit Buchstaben inmitten einer Klappe, auf denen etwas gemalt war. Und auf manchen Seiten innerhalb dieser Klappe war auch etwas gemalt. Das Ganze wirkte viel komplexer als die Arbeitsanweisungen auf den Aushängen in einfacher Sprache und mit erklärenden Symbolen erweitert, die dazu dienten, den Tagesablauf auf der Insel festzulegen. Er versuchte, etwas daraus zu lesen. Dabei stockte er mehrmals. So kompliziert waren die Wörter, so lang die Sätze, so verwirrend die Sprache. Er las einen der Titel auf der Klappe: Die göttliche Komödie. Darunter stand noch etwas: Dante Alighierie. Was sollte das bedeuten? „Dante Alig…hiiihie…erie“. Die anderen Texte, die auf diesen merkwürdigen Dingern standen, waren nicht verständlicher, doch gleichwohl faszinierend. „Das Bild… Biiildnis des Doriiiaaan Gray“ oder auch „Der Prozess“ und vieles mehr war geschrieben. Auch wenn er häufig nur wenig erfassen konnte, war 1023 begeistert und er vertiefte sich immer mehr.
Eines Tages wurde 1023 einer dumpfen Stimme aus seiner Versunkenheit gerissen.
„Wer spricht?“, fragte der einsame Seefahrer und blickte sich verwirrt um. „Zeig dich“, setzte er nach.
„Schau zu mir runter“, entgegnete die körperlose Stimme. 1023 blickte über die Reling und erschrak sehr darüber, was sich dort befand. Eine Gestalt im Wasser, durchsichtig, als wäre sie mit dem Element verschmolzen, doch mit ihren kohlschwarzen Augen gut erkennbar, begleitete ihn.
Sie rief in ihm ein mulmiges Gefühl hervor.
„Wer bist du?“, fragte er.
Das sonderbare Wesen antwortete: „Ich, ich bin nur auf der Suche nach etwas. Und es kann sein, dass du es hast.“
„Was soll ich haben? Ich treib nur hier herum.“
„Die Kiste. Du hast doch eine Kiste gefunden. Und in ihr war etwas.“
„Eine Kiste. Hab sie gefunden. Dir gehört sie?“
„Nicht unbedingt“, zischte die mysteriöse Gestalt. „Doch muss ich ihren Inhalt zerstören. Er ist gefährlich. Er bringt dich in Gefahr.“
„Welche Gefahr. Was sind das für Dinger?“
„Es sind…Bücher.“ Bücher. Die Gestalt im Wasser sprach das Wort aus, als hätte sie stinkenden Schlamm in ihren Mund gekriegt.
„Ich finde sie sehr interessant. Ich verstehe wenig, aber es begeistert mich, darin zu lesen.“
„Sie zerstören deinen Verstand. Gib sie her. Sie müssen vernichtet werden.“
„Nein“, erwehrte sich 1023. „Ich will sie behalten.“
Das Wesen fauchte wild und seine Augen weiteten sich zornig. Es rammte das Boot mit aller Kraft.  „Dann holen wir sie uns!“ Weitere dieser Kreaturen tauchten aus den Tiefen auf und brachten das Gefährt gefährlich zum Schaukeln. 1023 verpackte alle Bücher in ihrem Behältnis. Aber was sollte er machen? Besser wäre es, den Monstern zu geben, was sie wollten, doch irgendwas hielt ihn davon ab. Er umarmte die Kiste, ging auf die Knie und schloss die Augen. Es dröhnte und krachte um 1023 herum, Holz splitterte und schließlich fiel er kopfüber in das kalte Wasser, das in seine Nase drang und unter unbarmherzigen Brennen sein Gehirn zersetzte. Die Holzkiste entglitt seinem Griff. Blind und orientierungslos ruderte 1023 um sich und versuchte, irgendwie und trotz der Schmerzen in seinem Schädel, wieder zur Oberfläche zu gelangen.
„Wehre dich nicht“, wisperte es in seinem Ohr. „In den stumpfen Tiefen ist es leichter.“
1023 schwamm und schwamm. Ein fahler Schein stach in sein Auge, ein Schein, der ihn mehr erfreute, als jeder neue Morgen, der in zur Arbeit rief, die ihn früher mit so viel Glückseligkeit erfüllte. Zug um Zug hielt er auf das Licht zu und lies das Dunkel unter ihm zurück. Die Welt war gleißend.
„Er wacht auf“, sprach eine warme Stimme zu ihm. 1023 öffnete die Augen und wähnte sich in einem prachtvoll eingerichteten Raum, mit lauter sonderbaren, unbekannten Gegenständen – alles ganz anders als in den kargen Hütten in seinem Herkunftsort. Zu seiner Seite saßen ein Mann und eine Frau, die ihn mit freundlichem Blick beobachteten.
„Du hast es geschafft“, sprach der Mann zu ihm. „Ich bin Quasimodo und die Dame zu meiner Seite ist Kriemhild. Und du bist einer der Glücklichen, die eine unsere Nachrichten entdeckt und das Meer des Stumpfsinns überwunden haben. Dabei hattest du aber sehr viel Glück, dass du Schiffsbruch nicht weit von unserer Küste erlitten hast. Du wurdest an den Strand gespült und wir konnten dich vor dem Wasservolk retten.“
„Wo bin ich?“, fragte 1023.
„Du bist in einem Land der geistigen Entwicklung. Du findest hier Hilfe, um dein Potenzial zu entfalten und kreativ zu sein, ganz Du zu sein. Wir werden dir wie jedem Neuankömmling helfen, Wortschatz und Wissen zu erweitern, bis du bereit bist, deine eigenen Wissenswege zu gehen.“
„Und was ist das für ein Lärm dort draußen?“, fragte der verwirrte 1023, als er die Laute vernahm, die irgendwie nach Kampfgetümmel klangen.
„Das Wasservolk greift wieder an“, entgegnete die Frau beruhigend. „Sie greifen immer wieder an und nutzen die, die im Meer des Stumpfsinns ertrunken sind, als Armee gegen uns. Leere, gedankenlose Hüllen, die nur noch von Hass auf die getrieben sind, die die Chance auf Erkenntnis und Bildung haben. Das ist unser Los, dass wir für unsere Möglichkeiten und unseren Geist ständig von den Stumpfsinnigen angegriffen werden. Aber wir wissen uns zu verteidigen und auf dieser Insel bist du sicher.“
„Und was soll ich hier nun machen?“
„Was möchtest du denn machen?“
1023 überlegte kurz und erwiderte: „Ich habe ein paar Bücher begonnen. Eines interessiert mich sehr: Die göttliche Komödie. Ich will es lesen.“
„Wie es dir beliebt“, sagte der Mann namens Quasimodo. „Das haben wir. Ruhe dich aus, lies ein bisschen und wenn du dich erholt hast, dann zeigen wir dir alles. Wir stellen dir auch jemanden an deine Seite, der dir bei nicht geläufigen Wörtern hilft und der mit dir über die Geschichte redet.“
Dann sah Quasimodo 1023 würdevoll an. „Du bist auch keine Nummer mehr. Such dir aus, wie wir dich nennen sollen. Du kannst dich von allen Geschichten inspirieren lassen.“
1023 überlegte einen Moment. „Vergil. Ich weiß nicht, was es genau ist. Aber ich denke, das Wort klingt gut.“
„In der Tat. Eine gute Wahl.“

Bild von Michelle Raponi auf Pixabay

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